Ermittler sehen Bezüge zwischen Neonazi-Trio und dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Die Polizistin soll ihre Mörder gekannt haben.
Es ist Montagmittag, als im Bundestag in Berlin ein Mann der Sicherheit vor den Innenausschuss tritt und die nächste spektakuläre Wende in einer unfassbaren Mordserie bekannt gibt. Zwischen dem Mord an der jungen Polizistin Michèle Kiesewetter, im Frühjahr 2007 in Heilbronn am helllichten Tag verübt, und der rechtsextremen Zwickauer WG, über die derzeit das ganze Land spricht, gebe es einen Zusammenhang , sagt der Mann. Der Mord sei womöglich eine Beziehungstat.
In diesem Moment ist nicht ganz klar, was für eine Beziehung es zwischen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe und der Polizistin gegeben haben soll. Sie alle stammen aus Thüringen, aber sonst? Eines aber steht fest. Es geht nicht um irgendein Gerücht. Denn der Mann ist Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamtes, und gewohnt, jedes seiner Worte zu wägen. Und es dauert nicht lange, da ist auch in den Reihen derer, die in solchen Dingen gut informiert sind, ähnliches zu hören. Es könnte ein gezielter Mord gewesen sein.
Heilbronn, Festwiese Theresienwiese, 25. April 2007. Kiesewetter und ihr Kollege MartinA. sitzen in ihrem Streifenwagen, Mittagspause. Es muss gegen 14 Uhr sein, als zwei Unbekannte sich dem Auto nähern und beiden Polizisten ohne Vorwarnung in den Kopf schießen. Sie nehmen die Dienstwaffen ihrer Opfer mit, eine Handschelle, Pfefferspray, ein Multifunktionsmesser. Kiesewetter stirbt, ihr Kollege überlebt, schwerverletzt.
Mehr als vier Jahre später, im November 2011. In einer abgebrannten Zwickauer Villa, der WG von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, finden die Ermittler noch baugleiche Waffen, wie sie die Täter in Heilbronn benutzt hatten, dazu eine Handschelle, Messer und Reizgas. Im Wrack eines Wohnmobils in Eisenach hatten sie die Dienstwaffen Kiesewetters und ihres Kollegen gefunden. Noch in der vergangenen Woche hieß es aus dem Landeskriminalamt in Baden-Württemberg, der Mord an der Polizistin habe wohl nichts damit zu tun, dass sie aus Thüringen stammte. Dafür habe es keine Anhaltspunkte gegeben.
Und jetzt, so sagt es Ziercke vor den Parlamentariern, soll die Polizistin ihre Mörder womöglich gekannt haben. Ihre Familie soll versucht haben, einen Gasthof in Thüringen anzumieten, für den sich aber auch ein Mann aus dem Umfeld des Zwickauer Trios interessierte. Die Polizistin selbst habe jahrelang gegenüber des Gasthofes gewohnt.
Die Zeitschrift „Super-Illu“ will erfahren haben, dass Uwe Mundlos im Sommer 2005 mehrfach in Oberweißbach, dem Heimatort der Polizistin, gesehen wurde. Er habe sich mit einer Clique von sechs bis acht Jungen getroffen. Zusammen hätten sie kleine Bomben gebaut und rechtsextremistische Musik gehört. Mundlos habe sich unter anderem Namen vorgestellt.
Bestätigt ist das alles nicht. Auch was es mit dem Mord zu tun hat, bleibt an diesem Tag offen. Ziercke nennt keine Details. Die anderen Redner auch nicht. Dabei hatten sich die Fachpolitiker genau das erhofft. Eine Sondersitzung des Innenausschusses, viereinhalb Stunden. Geladen waren – außer Ziercke – der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, sein Thüringer Kollege Thomas Sippel, auch der neue Generalbundesanwalt Harald Range, die wichtigsten Männer für Sicherheitsfragen in Deutschland.
Die Politiker wollen wissen, was die Geheimdienste von dem Trio wusste – oder warum sie etwas nicht wussten. Die Hoffnung, diese Sitzung würde Klarheit in diesen verworrenen Fall bringen, erfüllt sich nicht. Noch immer weiß man sehr wenig über die Umstände der Taten. Immerhin eines scheint nun sicher: wie die beiden Terroristen Mundlos und Böhnhardt in Eisenach starben. Nach Informationen von „Morgenpost Online“ wurden in der Lunge von Mundlos Rauchpartikel gefunden. Es scheint also, als habe Mundlos zunächst Böhnhardt getötet, dann das Wohnmobil in Brand gesteckt und anschließend sich selbst erschossen.
Bisher galt Böhnhardt als der Gewalttätige und Mundlos als Stratege der Zwickauer Gruppe. Zudem soll die Bekenner-DVD bereits im Jahr 2007 entstanden sein. Dies wirft die Frage auf, warum das Trio anschließend offenbar mit dem Morden aufhörte. Die wenigen Antworten führen also gleich zu neuen Fragen. „Ich bin enttäuscht über den dünnen Neuigkeitswert“, sagte etwa Ausschussmitglied Konstantin von Notz (Grüne) „Morgenpost Online“.
Die Beichte der sächsischen Verfassungsschützer ist da längst abgelegt. Am Morgen hatte der Geheimdienstchef Reinhard Boos einen Termin bei der Parlamentarischen Kontrollkommission im Dresdner Landtag. Das Ergebnis, wenn man es zusammenfasst: Sachsens Verfassungsschutz hatte keinen Hinweis auf das Versteck und den Verbleib der Neonazi-Terrorzelle in Zwickau. Das Trio und sein Umfeld sind weder direkt noch indirekt unterstützt worden, weder durch Ausweispapiere noch in anderer Form.
Sagt der Verfassungsschutz. „Das betrachten wir als eine Garantieerklärung des Präsidenten“, sagte der Vorsitzende des Gremiums, CDU-Mann Günther Schneider, nach der Sitzung. Außerdem räumte Schneider ein, dass die sächsischen Geheimdienstler auch in Zwickau observierten. Schneider sagte, es habe bundesweit an mehreren Stellen offensichtlich Ermittlungsdefizite gegeben. Diese Furcht geht offenbar um.
Denn das Hamburger Landeskriminalamt will nun alle relevanten Straftaten seit 1995 auf einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund überprüfen. Auch Sachsen-Anhalt will nach einem Bericht des „Tagesspiegels“ sieben Tötungsverbrechen auf einen rechtsextremen Hintergrund prüfen.
Am Wochenende hatten mehrere Medien, darunter auch die „Morgenpost Online“, eine Liste mit weit über 100 Toten zusammengestellt , die Opfer rechter Gewalt sein könnten. Der Bund war bisher offiziell von 48 Toten ausgegangen. Der neue Generalbundesanwalt Range kündigte nach Informationen von „Morgenpost Online“ an, dass alle Kontakte des Verfassungsschutzes in die rechte Szene, besonders aber die Verbindungsleute überprüft würden.
Nach der ansonsten nicht sehr aufschlussreichen Sondersitzung in Berlin war Wolfgang Bosbach, der Vorsitzende des Innenausschusses, enttäuscht. Süffisant merkte er an: Zumindest eines stehe fest – Deutschland sei ganz sicher kein Überwachungsstaat.