Morgenpost Online: Elder Statesmen der CDU kritisieren das konturlose Profil der Partei. Können Sie das nachvollziehen?
Heiner Geißler: Teilweise. Erwin Teufel kritisiert zum Beispiel die Informationspolitik der Bundesregierung und das Erscheinungsbild der EU, ohne dafür allerdings die Bundeskanzlerin verantwortlich zu machen, Volker Rühe nennt die Libyen-Entscheidung des Außenministers einen schweren Verstoß gegen die Westbindung Deutschlands. Sie haben recht. Der Wirtschaftsflügel kritisiert die Energiewende und liegt damit aber völlig schief. Die Energiewende war die beste Entscheidung, die eine deutsche Regierung in den letzten Jahren gefällt hat.
Morgenpost Online: Sieht das die Parteibasis auch so?
Geißler: Eindeutig ja. Die Debatte um die angebliche Profillosigkeit der CDU konzentriert sich ziemlich nebulös auf das konservative und wirtschaftspolitische Profil. Aber es handelt sich nicht um eine Diskussion an der Basis der CDU oder im deutschen Volk, sondern um eine virtuelle und publizistische Debatte – so der Ministerpräsident von Niedersachsen, McAllister.
Manche Konservative und Neoliberale in der CDU leiden offenbar darunter, dass sie nach dem Zusammenbruch des Sozialismus kein Feindbild mehr haben und nach der Finanzkrise ihre Argumentationsbasis verloren haben. Sie projizieren daher ein neues Feindbild in die CDU hinein. Diese Debatte ist in erster Linie das Ergebnis von Gedankenfaulheit und mangelnder Zukunftsperspektive.
Morgenpost Online: Fakt ist aber, dass die Zustimmung in der Bevölkerung für die Politik der CDU kontinuierlich absackt.
Geißler: Die CDU hat den falschen Koalitionspartner. Leider kann man daran nichts ändern. Aber das Problem heißt ganz klar FDP. Fast alle Probleme der CDU in der Vergangenheit waren von der FDP verursachte Probleme, von der Hoteliersteuer angefangen bis hin zu der ständigen Steuersenkungsdebatte und der Verhinderung der internationalen Finanztransaktionsteuer.
Diese muss unbedingt kommen. Die Menschen müssen für jede Windel und jede Kaffeemaschine Umsatzsteuer zahlen, aber die Spekulanten und Devisenhändler, die jeden Tag zwei Billionen Dollar umsetzen, müssen sich mit keinem Cent an der Finanzierung der Menschheitsaufgaben beteiligen. Das wäre ein attraktives Profilthema der CDU.
Morgenpost Online: Welche Koalition wäre Ihnen lieber?
Geißler: Schwarz-Grün wäre eine viel vernünftigere Lösung. Es gab Hindernisse, aber die sind beseitigt. Außenpolitisch gibt es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten, in der Ausländerpolitik ebenfalls nicht mehr. Das einzige Problem, das wir hatten, war die Atompolitik, und das ist auch beseitigt.
Morgenpost Online: Angela Merkel nannte Schwarz-Grün ein Hirngespinst.
Geißler: Manche Gespenster verwandeln sich bei Sonnenaufgang in freundliche Wesen. Angela Merkel ist eine sehr intelligente Frau. Die Koalitionsmöglichkeiten der CDU einzuengen auf eine Partei, von der man gar nicht weiß, wie lange sie noch existiert, wäre nicht sehr intelligent.
Morgenpost Online: Ex-Fraktionschef Friedrich Merz warnt davor, dass die CDU ihre Stammwähler verliere.
Geißler: Er regt sich darüber auf, dass er und andere die Kanzlerin bei dem offenbar konspirativen Versuch ertappt haben, neue Wähler für die CDU zu gewinnen, etwa urbane Schichten des Bürgertums, moderne Familien mit gleichberechtigten, berufstätigen Frauen und Kinder erziehenden Männern, ökologisch bewusste Menschen, die eine humane Perspektive für ihr Leben erwarten, berufstätige Menschen, die Licht am Ende des Globalisierungstunnels sehen wollen. Und sie wollen ein ethisches Fundament in der Politik.
Morgenpost Online: Das fordert auch Erwin Teufel.
Geißler: Das christliche Menschenbild als Grundlage der Politik verlangt heute die Konzeption einer internationalen, sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Die Menschen haben zu Recht Angst um ihr Geld, das gefährdet wird durch die unkontrolliert arbeitenden internationalen Finanzmärkte.
Die CDU als Partei der sozialen Marktwirtschaft kann nicht dabei zusehen, wie die gesamte Gesellschaft ökonomisiert wird und sich alles nur noch an den Kapitalinteressen orientiert.
Morgenpost Online: Was ist mit der Kritik, der Partei sei jegliches Gespür für Werte, für Moral, für Ethik abhandengekommen?
Geißler: Das sehe ich nicht so. Allerdings hatte die CDU im vergangenen Jahrzehnt eine erhebliche sozialpolitische Schlagseite.
Eine Partei, die Volkspartei sein will und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall abschafft oder beeinträchtigen will, eine Kopfpauschale einführen will oder den Kündigungsschutz reduziert, die keinen Widerstand leistet, wenn Millionen von Minijobs geschaffen werden, eine solche Partei wird eben immer weniger mehrheitsfähig. Angela Merkel hat das Ruder ja herumgerissen.
Aber das muss jetzt auch durchgesetzt werden. Die neue Verantwortung für die sozial Schwächeren, für die einfachen Leute, wie Erwin Teufel es richtig formuliert hat.
Morgenpost Online: So klingt auch das klassische Selbstverständnis der SPD.
Geißler: Es ist geschichtslos, der CDU eine Sozialdemokratisierung vorzuwerfen. Alle großen Sozialgesetze der Republik, die Kriegsopferversorgung, Mitbestimmung, Betriebsverfassung, Rentenreform, Bundessozialhilfegesetz, die frühere Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik, Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung, Elterngeld, Kündigungsschutz für Frauen mit kleinen Kindern wurden ja von der CDU entwickelt und verabschiedet – und nicht von der SPD. Man muss von einer Christdemokratisierung der SPD und der Grünen reden.
Sie haben die soziale Marktwirtschaft, die Bündnis- und Verteidigungspolitik zum Beispiel fast nahtlos übernommen. Die CDU muss aber noch stärker klarmachen, dass sie eine Partei der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft ist. Die Parole muss heißen:
Im Zweifel entscheiden wir uns immer für den Menschen, in der Gesundheitspolitik, der Pflegeversicherung, der Sicherheitspolitik. Dann bekommt die CDU auch wieder ihre Mehrheiten. Wir haben sieben Millionen geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, von denen die Leute nicht leben können. Und sechs Millionen sind von HartzIV abhängig. Das ist für ein reiches Land wie die Bundesrepublik eine Katastrophe. Das ist die Folge von falschem moralischem Denken.
Morgenpost Online: Vernachlässigt die CDU aber nicht doch ihr konservatives Klientel?
Geißler: Es ist ein großer Irrtum, übrigens auch vieler Publizisten, anzunehmen, die CDU sei eine konservative Partei. Die CDU ist eine christlich-demokratische Partei, das ist etwas völlig anderes. Sie hat die geistige Union geschaffen zwischen den konservativen, liberalen und christlich-sozialen Strömungen, die es in der Geschichte gegeben hat.
Deshalb war sie 1946/47 eine Partei neuen Typs. Der politische Gegner und Teile der Publizistik wollen sie, um ihr zu schaden, in eine konservative Partei umstempeln. Sie ist aber nicht ein Sammelsurium aus Konservativen, Christlich-Sozialen und Liberalen. Sie ist keine Tory-Partei, keine aufgeblasene FDP, sie ist keine klerikale Partei mit christlichen Ayatollahs und keine Volksausgabe bibeltreuer Christen.
Wer ständig eine der Grundrichtungen verabsolutiert, also zum Beispiel den Wirtschaftsliberalismus zur Grundlage machen will, nimmt der CDU ihr Profil und die Chance, Volkspartei über 40 Prozent zu sein.
Zum Markenkern der CDU auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes gehört die Verfassung als Leitkultur, das westliche Bündnis, die politische Union Europas, die Beseitigung der Diskriminierung der Frauen in der Arbeitswelt, den Parteien, Kirchen und Gewerkschaften, ein Wirtschaftssystem, in dem das Kapital den Menschen zu dienen und nicht sie zu beherrschen hat.
Die Politikverdrossenheit hat ihre Ursache auch darin, dass heute nur knapp 20 Prozent der Menschen Vertrauen in das wirtschaftliche System haben und sie dieses Misstrauen auf die Politik übertragen.
Morgenpost Online: Sie halten Angela Merkel für die richtige Person an der Spitze?
Geißler: Ja. Es wird nur hintenherum kritisiert. Diese Leute sollen mal jemanden vorschlagen, der es besser kann und richtig macht. Da hört man immer nur Bahnhof.
Morgenpost Online: Apropos Bahnhof. Sie haben als Schlichter bei Stuttgart 21 überraschend ein Kombi-Modell vorgeschlagen. Wird damit Frieden hergestellt?
Geißler: Es wird geprüft werden. Aber ich bin in Sorge, dass Stuttgart 21 zu einem dauernden Element der bürgerschaftlichen Zwietracht wird. Die Bahn befindet sich in der unkomfortablen Lage, den Bahnhof in einem völlig veränderten politischen Umfeld bauen zu müssen, mit einer gespaltenen Landesregierung und einem Ministerpräsidenten, der gegen S21 ist.
Die Bahn sieht das mit großer Sorge. Das Verkehrsministerium könnte immer Schwierigkeiten und Probleme bereiten, und die Bauarbeiter und Fahrer wären ständig dem Stress ausgesetzt, von der Bevölkerung verbal angegriffen zu werden.
Der Wahlkampf zur Volksabstimmung wird auf dem Rücken der Bahn ausgetragen. Die Finanzprobleme für S21 sind nicht abschließend beantwortet. Man kann die Baustelle auch nicht schützen. Diesen Zündstoff aus der Geschichte herauszunehmen sollte auf jeden Fall eine Überlegung wert sein.
Morgenpost Online: Sie haben vor dem „totalen Krieg“ gewarnt. Mit dieser Formulierung stimmte NS-Propagandaminister Joseph Goebbels 1943 die Deutschen in seiner Berliner Sportpalastrede auf die Verschärfung der Kämpfe ein. Sollten Politiker heutzutage nicht auf solche Zitate verzichten? Das kann nur zu Missverständnissen führen.
Geißler: Ich habe sie absichtlich gewählt, um die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung allen deutlich zu machen