"Sie erkennt Potenziale und versteckte Talente, fördert diese gezielt und beurteilt die Leistungen unabhängig von der sozialen Herkunft oder der persönlichen Sympathie.“ Lehrer, die ein solches Zeugnis von ihren Schülern ausgestellt bekommen, haben wohl eine Menge richtig gemacht.
Die Zeilen stammen aus einem Brief, mit dem Schüler des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums in Hannover ihre Lehrerin Gabi Meuer für den letzten Deutschen Lehrerpreis empfahlen. Darin kommt vieles von dem zum Ausdruck, was Schüler von Schule erwarten: Sie soll sie fördern, jeden nach seiner Begabung und nur nach Leistung beurteilen. Offenbar ist das nicht selbstverständlich. Würde es sonst so deutlich artikuliert?
Psychologen gibt es nur an einem Drittel der Schulen
Die Ansprüche von Schülern und Lehrern, aber auch der Eltern sind beinahe identisch, das zeigt eine große repräsentative Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Vodafone-Stiftung. Befragt wurden Bürger und speziell auch Lehrer.
Was eine gute Schule ausmache, wollten die Wissenschaftler von den Pädagogen wissen. Gut ausgebildete, engagierte Pädagogen, lautete deren erste Antwort. Gleich dahinter listeten die Befragten die Möglichkeit auf, Kinder gezielt nach ihren Begabungen zu fördern. 74 Prozent sehen darin ein Charakteristikum guter Schule.
Wenn es jedoch allein danach ginge, wären nur die wenigsten Schulen in Deutschland wirklich gut. Nur 24 Prozent der Lehrer geben an, dass dort, wo sie unterrichten, die individuelle Förderung auch gelinge; Förderkurse gibt es in den selteneren Fällen, Sozialarbeiter, Psychologen nur an knapp einem Drittel der Schulen.
Kaum Förderung für Hochbegabte
Verloren müssen sich gerade die Allerbesten fühlen, denn nur 17 Prozent der Lehrer sehen sich in der Lage, sie gezielt zu unterstützen. Der letztere Befund spiegelte sich in den Ergebnissen des jüngsten Pisa-Leistungstests wieder. Dabei zeigte sich, dass Deutschland in der Lesenkompetenz zwar im Mittelfeld aufholen konnte, sich jedoch in der Spitzengruppe überhaupt nicht verbesserte. Hochbegabte sind immer noch ein Stiefkind der deutschen Bildungslandschaft.
Doch gesellschaftspolitisch problematischer ist, dass es den schwachen Schülern nicht besser geht. Und ausgerechnet sie erfahren nicht nur genug Hilfe in der Schule, sondern auch nicht im Elternhaus. Das ist mittlerweile beinahe eine Binsenweisheit, allerdings muss das Ausmaß des Desinteresses erschrecken.
74 Prozent der Lehrer an Hauptschulen müssen immer wieder feststellen, dass sich die Eltern zu wenig für die Leistungen ihrer Kinder interessieren. Nur sechs Prozent machen die Erfahrung, dass die Kinder gefördert und unterstützt werden, wo immer es geht. An Gymnasien sagen das 33 Prozent. An Grundschulen 42 Prozent.
Eltern verabschieden sich in Verantwortungslosigkeit
Offensichtlich haben sich ausgerechnet dort, wo die Schüler jede Hilfe bräuchten, die Eltern in die Verantwortungslosigkeit verabschiedet. Von staatlicher Seite wurde dies bisher noch zu wenig anerkannt. Das zeigt etwa das Hartz-IV-Bildungspaket der Bundesregierung.
Die Studie gibt indirekt eine Antwort auf die Frage, warum sich die berechtigen Eltern kaum bemühen, die ihren Kindern zustehenden Gelder zu beantragen. Nicht jedes Kind aus einer Hartz-IV-Familie geht auf eine Hauptschule, aber doch ein weit höherer Prozentsatz als im Durchschnitt der Bevölkerung.
Es ist plausibel, dass sich Berechtigte nicht um Unterstützung für bessere Unterrichtsmaterialien bemühen, wenn mehr als Zwei Drittel der Hauptschullehrer die Erfahrung machen, dass sich Eltern nie nach den Leistungen der Kinder erkundigen.
Die Studie legt den Schluss nahe, dass der Staat von den Eltern stärkeren Einsatz fordern muss oder zumindest nicht warten darf, bis sie von sich aus tätig werden. Die Lehrer gehen dabei mit klaren Vorstellungen voran. 69 Prozent sagen, den Kindern müsse von Hause aus mehr zugemutet werden. Disziplin, Durchhaltevermögen, das alles vermissen sie in hohem Maße.
Bevormundung von Eltern?
Für Baden-Württemberg hat ein Expertenrat unter Leitung des Bildungsforschers Jürgen Baumert gerade Möglichkeiten erarbeitet, wie den Kindern schon im Vorschulstadium geholfen werden kann. Baumert empfiehlt, die Komm-Struktur um eine Empfang-Struktur zu erweitern. „Wir brauchen ein System der aufsuchenden Elternbildung, dort wo sie nötig ist“, sagt Baumert. Unter dem Stichwort Bevormundung von Eltern ist dies allerdings durchaus umstritten.
Konsens ist dagegen, die individuelle Förderung an den Schulen auszubauen. Doch was tut die Politik dafür? Längst nicht genug und oft das falsche.
Eine der teuersten Maßnahmen ist, die Klassengröße zu verkleinern; das ist freilich ein dankbares Wahlkampfthema. Denn 71 Prozent der Bürger glauben, dass sehr große Klassen zu den besonderen Herausforderungen der Lehrer gehören. Die Klassengröße wird stärker problematisiert als schlecht erzogene Schüler.
Mehr personelle Ressourcen
Kleine Klassen sind Lehrern dagegen gar nicht so wichtig, nur 39 Prozent wünschen sie sich explizit. Die Bildungsforschung ihrerseits hat bisher keinen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und Klassengröße ermitteln können. Für einen Lehrer ist es ohnehin unerheblich, ob er nun 28 oder 25 Schüler betreuen muss, in beiden Fällen ist eine individuelle Förderung illusorisch.
„Wer mehr individuelle Förderung will, muss mehr materielle und personelle Ressourcen schaffen“, sagt Susanne Lin-Klitzing, Professorin für Pädagogik in Marburg. Inzwischen beträgt das Pensum oft bis zu 30 Unterrichtsstunden pro Woche, Korrekturzeiten nicht mitgerechnet. Um überhaupt auf einzelne Schüler eingehen zu können, dürften es nur 18 Stunden sein, rechnet Lin-Klitzing vor.
„Wir brauchen mehr Zeit, mehr Luft, um über Probleme reden zu können“, sagt auch Deutsch- und Geschichtslehrerin Gabi Meuer aus Hannover. Es helfe schon, wenn Lehrer mit ihren Schülern nach dem Unterricht einfach fünf Minuten unter vier Augen redeten.
Gabi Meuer ist im Notfall sogar zu den Eltern nach Hause gekommen. „Die Eltern müssen anerkennen, dass sie eine zentrale Rolle spielen, dass sie es sind, die das Kind auf diesen Weg gesetzt haben und deshalb Einsatz bringen müssen“, sagt sie. „Dann findet man immer eine Lösung.“