Darauf haben die Grünen in Baden-Württemberg mehr als drei Jahrzehnte lang gewartet: Als sich Winfried Kretschmann am Donnerstag um 11.48 Uhr zum ersten Mal an der Kopfseite des Landtags in Stuttgart auf die Regierungsbank setzt, kennt der Jubel unter seinen Parteifreunden keine Grenzen.
Auch die Sozialdemokraten stimmen in den rhythmischen Beifall ein. Selbst die Abgeordneten von CDU und FDP und der scheidende Regierungschef Stefan Mappus (CDU) klatschen. Schließlich hat es der 62 Jahre alte wertkonservative Biologie- und Ethiklehrer sogar geschafft, mindestens zwei Stimmen aus dem bürgerlichen Lager für sich zu gewinnen.
Minuten zuvor: Kretschmann steht die Anspannung noch ins Gesicht geschrieben. Zu knapp sind die Mehrheitsverhältnisse, als dass er gelöst auf seinem bisherigen Platz als Chef der Grünen-Fraktion sitzen könnte.
Schließlich darf nicht mehr als ein Parlamentarier der neuen Koalition bei der Abstimmung fehlen oder aus der Reihe tanzen. Aber um 11.38 Uhr verkündet CDU-Landtagspräsident Willi Stächele das befreiende Ergebnis: Es sind sogar zwei Stimmen mehr, als Grün-Rot Mandate im Landesparlament hat.
Dabei hatte es an Unkenrufen nicht gefehlt. Aus der SPD waren in den vergangenen Tagen Zweifel gestreut worden, ob denn alle Grünen bei der Stange bleiben. Schließlich waren einige der 36 grünen Parlamentarier leer ausgegangen, als die Minister- und Staatssekretärsämter vergeben wurden.
Zudem haben die Sozialdemokraten zwei Minister mehr als die Grünen, auch wenn die über ein Kabinettsmitglied mehr verfügen. Und Kretschmann hatte Politiker aus Berlin in die Regierung geholt.
Aber das stets zurückhaltende und bescheidene Auftreten des 62-Jährigen vor seiner Wahl tut seine Wirkung. Mehr als einmal macht er seiner Partei deutlich, welch historische Chance sie vergeben würde, wenn einzelne ihren Ärger mit dem Wahlzettel ausleben würden.
Und auch die SPD-Abgeordneten schlucken offenkundig ihren Ärger darüber herunter, dass sie nur als Juniorpartner im Regierungsboot sitzen. Die alten Ressentiments, wonach die Grünen nur Fleisch vom sozialdemokratischen Fleische sind, gelten vorerst nicht mehr. Es gilt den historischen Schritt zu besiegeln, die CDU nach 58 Jahren an der Macht im Südwesten endlich einmal auf die Oppositionsbänke zu schicken.
Aber die neue Regierung steht auch riesigen Erwartungen gegenüber, wie Kretschmann in zahllosen Interviews nach seiner Wahl nicht müde wird zu betonen. Allein der Druck aus Berlin ist riesengroß. Denn bei den Grünen träumen manche schon von einem Bundeskanzler aus den eigenen Reihen nach der Bundestagswahl 2013.
Selbst Kretschmann hofft auf die grüne Chance und bringt Joschka Fischer als Kanzlerkandidat ins Spiel: „Ich glaube es nicht, dass er es machen wird. Aber ich fände es attraktiv“, sagt Kretschmann im ZDF. Damit die Grünen im Bund weiter obenschwimmen, müsste das grün-rote Bündnis im Land der Autofabriken und Atomkraftwerke richtig gut funktionieren.
Doch das heftig umkämpfte Milliarden-Bahnprojekt Stuttgart 21 wirft einen langen Schatten auf das neue Bündnis – das zeigt auch das neue Gerangel am Donnerstag zwischen dem Verkehrsminister und erbitterten Stuttgart-21-Gegners Winfried Hermann und Vize-Regierungschef Nils Schmid .
Hermann will den Tiefbahnhof auf keinen Fall bauen und die Zuständigkeit im Zweifel an die SPD abgeben. Schmid weist das zurück und wirft Hermann „Rosinenpickerei“ vor.
Ein wirklicher Kompromiss ist also nicht in Sicht, wenn die Bahn auf einen Weiterbau des Tiefbahnhofs drängt und ein Volksentscheid keinen Weg für den Ausstieg ermöglicht. Schließlich wurden die Grünen auch von den Wellen des Protests gegen Stuttgart 21 an die Macht gespült und halten an ihrem Widerstand dagegen fest.
Große Teile der SPD sehen dagegen in dem Bauvorhaben weiterhin ein zentrales Infrastrukturprojekt zugunsten der wirtschaftsstärksten Region Europas.
Mit Kretschmanns Wahl hat nun also die harte Knochenarbeit für Grün-Rot begonnen. Doch zunächst genießt der 62-Jährige den Jubel seiner Anhänger beim Empfang im Landtagsfoyer. Um 12.18 Uhr öffnet er die Türen des Parlaments, um draußen die Glückwünsche von Stuttgart-21-Gegnern entgegenzunehmen. Sie halten Schilder mit dem gekrönten Haupt ihres Hoffnungsträgers in die Höhe und rufen „oben bleiben“.