Reaktion auf Gazaflotte

Türkei nähert sich dem radikalisierten Islam an

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Boris Kalnoky

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Nach der wackeligen Stellung in der EU wählt die Türkei einen neuen politischen Kurs: Weg vom Westen, hin zum Islam.

In der Türkei gab es nach dem blutigen Drama um die "Hilfsflotte" für Gaza tagelang nur eine sichtbare Reaktion: Barbarische Israelis hätten unschuldige Türken "massakriert" und müssten dafür bestraft werden.

Vor einigen Tagen erhob sich aber eine neue, bedachtsamere Stimme, die die Regierung in Verlegenheit brachte. Es war die Stimme von Fetullah Gülen, wahrscheinlich die einflussreichste Figur des politischen Islams der Türkei. Obwohl er in den USA lebt, gelten seine strategischen Empfehlungen immer wieder als Inspiration für die Politik der Regierung.

Ihm wurde der Rat zugeschrieben, das türkische Militär mit Muslimen zu unterwandern. Die nun von der Regierung geplanten Verfassungsänderungen könnten es wahr werden lassen: Wenn das Verteidigungsministerium erst die Personalpolitik der Armee bestimmt, dann könnte das bislang säkulare Militär zu einer islamisch orientierten Organisation werden.

Zur Gaza-Affäre hatte Gülen nun Folgendes zu sagen: Es sei "hässlich" gewesen, wie die Aktivisten auf der "Mavi Marmara" die israelischen Soldaten mit Eisenstangen schlugen, und das ganze Vorhaben "eine Herausforderung der Autorität".

Das, so Gülen, könne "keine guten Früchte" tragen. Die radikale "Hilfsorganisation" IHH nannte er süffisant einen Verein, von dem er erst vor kurzem gehört habe. Damit gab er wohl zu verstehen, die IHH sei im Vergleich zu ihm eine bedeutungslose Dilettantentruppe.

Seither streiten sich Minister um die korrekte Auslegung der Worte des Meisters, der, wie Vizepremier Bülent Arinc ergeben feststellte, "immer die Wahrheit spricht". Das Problem ist: Gülen sagte das Gegenteil von dem, was Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül verbreiten. Beide nennen es eine "Lüge", wenn man der IHH radikale Ansichten oder Verbindungen zu Terrorgruppen unterstellt.

Gülens verblümte Kritik brandmarkt die IHH-Schläger aber genau als das, was sie sind. Warum sie ihm missfallen? Aus dem Nichts heraus hat ihm die radikale IHH mit ihrem gewaltbereiten Aktionismus und eifernden Brandreden das Rampenlicht gestohlen. Ihr Geist könnte rasch zum neuen Standard in der Türkei werden. Die Regierung hat sich die Sache der Radikalen zu eigen gemacht, und schlägt daraus politisches Kapital.

Die Vorteile sind zahlreich: Erdogan kann nun der erstarkenden säkularen Opposition nachsagen, sie sei ein Handlanger Israels. Er kann neuerdings die gesamte islamische Welt verbalradikal in Begeisterung versetzen - nicht unbedingt die Regierungen, aber die "Straße". Und das macht die neue, islamischere Türkei zunehmend zum neuen Machtzentrum der islamischen Welt.

Es sind nicht nur Worte. Die türkische Regierung gestaltet mit der Krise um die "Hilfsflotte" derzeit die Politik im Nahen Osten, Hand in Hand mit einer radikalen Organisation, die früher offen Verbindungen zum globalen Dschihad hatte, und heute verdächtigt wird, diese Verbindungen weiterhin zu pflegen. Wenn gar Gerüchte wahr werden sollten, Erdogan wolle demnächst selbst mit einer "Hilfsflotte" nach Gaza, begleitet von türkischen Kriegsschiffen.

Die ganze Gaza-Rhethorik der Türkei hört sich fast so an, als sei ein Krieg ausgebrochen. Von einem "diplomatischen Krieg" gegen Israel ist in den Medien die Rede, mit dem Ziel, die Regierung Netanyahu zu stürzen. AKP-Abgeordnete verweisen auch darauf, dass Stunden vor dem Angriff auf die "Mavi Marmara" ein PKK-Anschlag bei Iskenderun sieben türkische Soldaten das Leben kostete.

"Wir denken, dass es kein Zufall ist, dass diese beiden Angriffe gleichzeitig stattfanden", sagte der stellvertretende AKP-Vorsitzende Hüseyn Celik. Schon 2007 hatte der US-Journalist Seymour Hersh behauptet, Israel unterstütze die PKK. In der Türkei gehört dieses Thema weniger in den Bereich ideologischer Radikalisierung, sondern wird als denkbare militärische Auswirkung des aus ideologischen Gründen eskalierenden Konflikts mit Israel betrachtet.

Prowestliche arabische Regierungen tun gut daran, den neuen Einfluss der Türkei zu berücksichtigen. Tun sie es nicht, so könnte Ankara gegebenenfalls die arabischen Bevölkerungen gegen ihre eigenen Regierungen aufwiegeln. Erdogan deutete es an, als er vor einigen Monaten erklärte, nur die Völker der muslimischen Länder wüssten, was gut und richtig ist - nur ihre Regierungen handelten miserabel, wenn es um Gaza und Israel ginge.

Vor wenigen Jahren noch war die Politik der Türkei auf einen erhofften EU-Beitritt ausgerichtet. Dass sich dies bislang als Sackgasse erwies, mag viel damit zu tun haben, dass man nun andere Wege sucht. Man will nicht mehr Brücke zu Europa sein, sondern, wie Außenminister Ahmed Davutoglo sagt, "Gravitationszentrum".

Wenn es das Ziel der Türkei ist, zum neuen Führer einer erstarkenden muslimischen Welt zu werden, dann geht das nur über eine gewisse Radikalisierung. Ankara müsste den Muslimen echte Hoffnung geben, Israel konkret überwinden zu können. Nicht gleich von der Landkarte wischen, wie der Iran es gern hätte – aber das Land zurechtzustutzen, es kleiner, demütiger und schwächer machen.

Im Westen träumt man von der Brückenfunktion der Türkei, aber wahrscheinlich geht die Gleichung nicht auf. Denn die Türkei würde im Nahen Osten Punkte verlieren, wenn sie plötzlich westliche Werte oder Vorstellungen schmackhaft machen wollte. Freunde gewinnen würde sie damit nur in Israel.