Washington. Chicago. Heimat. Die Stadt, wo an einem eiskalten November-Abend vor mehr als acht Jahren nach einem fulminanten Wahlsieg alles begann. Am Dienstag wird Barack Obama an die Stelle seines größten Triumphes zurückkehren, ein letztes Mal Danke sagen und der Nation ins Stammbuch schreiben, was er oft seinen Generälen eingetrichtert hat: „Macht kein dummes Zeug“. Er meint diesmal – „mit meinem Vermächtnis“.
Wie fällt es aus, trotz eindrucksvollen Beliebtheitswerten in der Bevölkerung von fast 60 Prozent? Bestenfalls gemischt. Betörenden „Yes, we can“-Reden folgten nicht selten leere Versprechen. Der Träger des Friedensnobelpreises war gleichzeitig der unnachgiebigste Drohnen-Scharfrichter.
Obama brachte ein Stück Sozialstaat nach deutschem Muster nach Amerika. Und hat dennoch Hunderttausende Tote in Syrien zumindest mitzuverantworten. Eine Regentschaft der Extreme geht zu Ende. Hier die Bilanz in Plus und Minus.
Wirtschaft und Finanzen
Plus: 15 Millionen neue Jobs in acht Jahren, das kann sich sehen lassen. Obama verlässt das Amt mit einer Arbeitslosenquote von 4,7 Prozent. Statistisch gesehen Vollbeschäftigung. 2008, als die USA wegen Finanz- und Immobilienkrise in der größten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression 1929 standen, waren es 10,2 Prozent.
Die Auto-Industrie, damals kurz vor dem Exitus, ist heute wieder Wirtschaftsmotor. Die Banken sind nach schweren Fehlentwicklungen 2008 heute krisenfester als ihre europäischen Konkurrenten.
Minus: Die Zahlen lügen nicht, aber sie erzählen nur die halbe Geschichte. Millionen Amerikaner sind auch unter Obama langzeitarbeitslos geblieben. Die Zahl der von staatlichen Essens-Marken („food stamps“) zehrenden Menschen ist nicht kleiner geworden. Die Löhne stagnieren auf dem Niveau von vor 20 Jahren.
Die Superreichen sind noch superreicher geworden. Wall Street eilt von Bestmarke zu Bestmarke. Das Staatsdefizit hat Schwindel erregende 20 Billionen Dollar erreicht. Die Handelsabkommen TTP (mit Asien) und TTIP (mit Europa) sind geplatzt.
Gesundheitsreform
Plus: Der „Affordable Care Act“, von Kritikern abschätzig „Obamacare“ tituliert, ist die wirkungsmächtigste Hinterlassenschaft. Obama hat damit ein Krankenversicherung für alle eingeführt, die es auch Einkommensschwachen gestattet, sich privat zu versichern und so im Krankheitsfall den Ruin zu vermeiden.
Die sonst wählerischen Versicherer wurden gesetzlich dazu gezwungen, Menschen mit chronischen (und damit teuren) Krankheiten aufzunehmen. Über 20 Millionen haben davon bisher profitiert.
Minus: 30 Millionen Amerikaner sind weiter ohne Schutz. Und der Widerstand gegen das Reformwerk wächst wöchentlich, auch wenn der Oberste Gerichtshof es für verfassungsfest erklärt hat.
„Obamacare“ hat erhebliche Webfehler. Im Dschungel der Bürokratie scheitern Versicherte an bürokratischen Hindernissen. Der Aspekt der Kostensenkung in der weltweit als ineffizient und überteuert geltenden Medizin-Branche wurde vergessen. Stattdessen steigen die Preise für die Versicherungspolicen pro Jahr. Stellenweise um bis zu 100 Prozent.
Gesellschaft
Plus: Bunter, vielfältiger, offener – die USA haben sich unter Obama stark verändert, sind liberaler geworden. Jedenfalls in den Metropolen. Auf dem Land, so hat die Wahl gezeigt, wurden gegenläufige Tendenzen wach. Gleichgeschlechtliche Ehen sind in allen 50 Bundesstaaten möglich, abgesichert durch das Oberste Gericht. Transsexuelle haben das Recht, Toiletten ihrer Wahl zu benutzen. Über die Gleichstellung von Frauen wird inzwischen ohne Tabus geredet.
Minus: Die laschen Waffengesetze sind trotz regelmäßiger Massaker immer noch lasch. Alle Versuche Obamas, den Widerstand der Waffenlobby NRA und ihrer parlamentarischen Komplizen zu brechen, sind gescheitert. Die Waffenindustrie feiert Rekorde. Die Zahl der Morde ist in mehreren Städten sprunghaft gestiegen.
Außerdem: Obamas Credo von 2008 – es gibt kein konservatives, liberales, weißes oder schwarzes Amerika, es gibt nur ein vereinigtes Amerika für alle – hat sich abgenutzt. Die Gesellschaft wirkt gespalten. Rassistische Unterströmungen haben ausgerechnet in der Amtszeit des ersten Afro-Amerikaners Auftrieb bekommen. Symptom: die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen schwarzen Demonstranten und weißen Polizisten. Obamas Ziel, das Land zu versöhnen, ist nicht erreicht worden.
Fehlanzeige auch bei der Frage, wie der Status von elf Millionen illegal eingewanderten Menschen dauerhaft zu verbessern ist. Obama hat für viele vorübergehend die drohende Abschiebung abgewendet. Von einer mehrheitsfähigen Einwanderungsreform konnte er die Republikaner nie überzeugen.
Außenpolitik
Plus: Unter Obama wurde der Weltpolizist und Cowboy USA in vorgezogene Rente geschickt. Nach den verhängnisvollen Interventionen der Regierung Bush verordnete er der größten Militärmacht Zurückhaltung. Besonnenheit trat an die Stelle von imperialem Gehabe und der Neigung, sich in anderen Ländern neue Regierungen herbei zu bomben.
Obama zog das Gros der Truppen aus Afghanistan und Irak ab und verlegte kriegerisches Tun zwischen Jemen und Afghanistan weitgehend auf völkerrechtlich umstrittene Droheneinsätze, bei denen nach inoffiziellen Zahlen Tausende Zivilisten ums Leben kamen. Unter Obama wurde der Terror-Papst Osama Bin Laden getötet und die über 50 Jahre lang praktizierte Eiszeit mit dem sozialistischen Kuba aufgegeben.
Der Atom-Deal mit dem Iran hat eine militärische Konfrontation mit dem Mullah-Regime bis auf weiteres ausgeschlossen. Sein Versprechen, das Terror-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba wegen Unrechtmäßigkeit zu schließen, konnte Obama aufgrund der Fundamental-Opposition der Republikaner nicht einlösen. Er hat die Zahl der Gefangenen auf knapp 50 reduziert. Mehr war nicht drin.
Minus: Für den von Obama vollzogenen Wechsel in den machtpolitischen Rücksitz („leading from behind“) bezahlen Amerika und die Welt einen Preis. Es entstand ein Vakuum, in das andere stoßen: vor allem Russland und China.
Im Irak unterschätzte der Präsident lange Zeit das Gewicht der Terrormiliz Islamischer Staat. In Libyen ließ er die Ausschaltung von Diktator Muammar al-Gaddafi geschehen, ohne den Weg für eine funktionierende Anschlusslösung zu ebnen. In Syrien zog er nach dem Einsatz von Giftgas durch das Assad-Regime eine „rote Linie“, blieb aber tatenlos, als der Despot die Warnung ignorierte. Auch wenn niemand den Beweis dafür antreten kann, dass ein massives militärisches Eingreifen der USA das Massensterben in Aleppo und anderswo verhindert hätte – die Toten des furchtbarsten Bürgerkrieges seit Ex-Jugoslawien werden historisch zu einem großen Teil auch bei Obama abgeladen.
Insgesamt sind die Beziehungen zur islamischen Welt, der Obama mit einer großen Rede in Kairo die Hand reichte, von Saudi-Arabien bis Pakistan abgekühlt. Das Verhältnis zum wichtigsten Partner Israel ist trotz 40 Milliarden Dollar Militärhilfe aus Washington kaputt. Obama fuhr dem störrischen Premierminister Netanjahu zu oft in die Parade. Saudi-Arabien, bis dato strategischer Partner Nr. 1., geht zusehends auf Distanz. Eine Zweistaaten-Lösung zur Beilegung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern ist keinen Zentimeter weiter gekommen.
Auf Europa bezogen: Die Handhabung der NSA-Abhöraffäre zeigte gerade den idealistischen Deutschen, dass der von ihnen 2008 in Berlin als Lichtgestalt umjubelte Politiker kein Kind von Traurigkeit ist.
Russland
Plus: Obama hat in der Frage von Cyber-Angriffen in den US-Wahlkampf klargestellt, dass Moskau an der Destabilisierung der internationalen Machtordnung arbeitet. Das muss alle westlichen Demokratien wach rütteln.
Minus: Dem durchtriebenen Wladimir Putin hatte er nicht mehr entgegenzusetzen als Appelle und Sanktionen, deren Wirkung sich in Grenzen hält. Es war ein Fehler, Russland mit dem Titel „Regionalmacht“ zu demütigen und zu reizen. Krim, Ukraine, Syrien – Putin zeigt mit Verve, was er davon hält.
Klimaschutz
Plus: Unter Obama hat sich der Klimasünder Amerika in Sieben-Meilen-Stiefeln auf den Weg der Besserung gemacht. Emissionsgrenzwerte für Kohlekraftwerke, Ölförderungsstopp in der Arktis, Verbot von großen Pipelines, der gezielte Ausbau alternativer Energieformen und das Pariser Klimaschutz-Abkommen gehen auf sein Konto.
Minus: Die nicht sonderlich umweltverträgliche Methode der Gewinnung von Öl und Gas durch Fracking hat unter Obama Rekordvolumen erreicht. Und: Für die wegfallenden Arbeitsplätze im Bergbau hat Obama keine Alternativen angeboten. Auch darum verlor Hillary Clinton in betroffenen Bundesstaaten bei der Wahl entscheidende Stimmen.
Stil
Plus: Obama ist Coolness und Charisma, medial auf allen Kanälen präsent. Er brachte Glamour und Größe ins Weiße Haus und zeigte sich selbst unter Dauerbeschuss würdevoll. Die von seinem Nachfolger Donald Trump befeuerten Verschwörungstheorien über seine angeblich un-amerikanische Herkunft ertrug der 55-Jährige mit Langmut.
Gemeinsam mit Gattin Michelle erreichte das Power-Paar Rockstar-Format. Keine Skandale, null Fehltritte. Stattdessen, nicht nur, was die Erziehung der Töchter Malia und Sasha anbelangt, Bilderbuch-Qualität.
Minus: Obama konnte die Aura des unterkühlten Universitätsgelehrten, der Probleme vom Ende her denkt (und das lange), nie ablegen. Mehr Kumpelhaftigkeit à la Bill Clinton, gerade im Umgang mit den eitlen Abgeordneten im Kongress, hätte manchem politischen Vorhaben förderlich sein können, sagen Kritiker.
Am Ende regierte der 44. Präsident nur noch mit Sonder-Anordnungen. Ein Solist ohne Orchester. Der neue Dirigent Trump wird andere Töne anstimmen.