Grünen-Chefin Claudia Roth hat ihre eigene Art, sich auf einen Parteitag einzustimmen. In der Freiburger „Jackson Pollock Bar“ legte sie zu fortgeschrittener Stunde noch Platten für die grüne Jugend auf: „Kiss Kiss“ und „Pata Pata“ und natürlich „Let me entertain you“. Ein Versprechen geradezu an die rund 820 Delegierten Bundesparteitags, der heute in der Freiburger Messe begonnen hat. „Auftrag: Grün“ lautet das Motto des zweitägigen Treffens. Die Grünen wollen zeigen, dass sie trotz ihres Umfragehochs nicht abheben.
Aber selbstbewusst sind sie schon. Daran ließ Co-Parteichef Cem Özdemir keinen Zweifel. „Wenn wir einmal auf der Straße sind, hält uns nichts mehr auf“, sagte er in seiner politischen Rede zum Auftakt des Parteitags und spielte damit auf die Proteste gegen Stuttgart 21 an. Özdemir teilte in alle Richtungen aus: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warf er vor, sich mit ihrer Politik nicht mehr am Gemeinwohl zu orientieren. Und an die Adresse der Linkspartei sagte Özdemir: „Radikal reden kann jeder. Wir streben Verantwortung an.“
So redet einer, der Machtoptionen im Blick hat und alles andere als bescheiden ist. Auch wenn Özdemir das Gegenteil beteuerte: „Als jemand, dessen Vorfahren aus dem Orient kommen, kenne ich mich mit fliegenden Teppichen aus und deshalb fällt es mir nicht schwer, auf dem Teppich zu bleiben.“ Die Grünen sind im Höhenrausch – und setzen auf „klare Kante“ und Ehrlichkeit. „Wir werden den anderen nicht den Gefallen tun, unsere Konzepte nicht durchzurechnen“, sagte Özdemir.
Steuersenkungen werde es mit den Grünen nicht geben. Und die Zeiten, die Milliarden aus dem Ehegattensplitting zweimal auszugeben, seien vorbei. Deutschland brauche endlich einen Mindestlohn und eine Bürgerversicherung.
Es ist der 32. Bundesparteitag für die Grünen und der erste als 20-Prozent-Partei. Die Grünen sind auf dem Sprung zur mehrheitsfähigen Volkspartei. Die Erwartungen sind hoch, das Interesse an dem Treffen groß wie nie. In der Öko-Hauptstadt Freiburg will die Öko-Partei nun zeigen, dass Grün eine Alternative ist – ganz ohne selbstironische Anspielung auf das eigene Öko-Image: Weder Energiesparlampen noch Bio-Müsli-Riegel liegen in diesem Jahr auf den Tischen der Delegierten. Die Grünen geben sich seriös und vernünftig.
"Das wird kein Parteitag mit Öko-Sekt und Bio-Bier“, sagte Özdemir und ermahnte die Delegierten, sich von den guten Umfragwerten nicht täuschen zu lassen. „Das könnte einen fiesen Kater hinterlassen.“ In Freiburg wollen sich die Grünen auf das Superwahljahr 2011 mit seinen sechs Landtagswahlen vorbereiten. Und auch die Bundestagswahl 2013 haben sie schon im Visier. Özdemir plädierte für die Anhebung des Spitzensteuersatzes von 42 auf 45 Prozent und für die Abschaffung von Insellösungen bei der Mehrwertsteuer. Der niedrige Steuersatz sollte auf Ausnahmen im Bereich Soziales, Ökologie und Kultur beschränkt werden. „Rocken wir die Republik 2011“, forderte Özdemir die Delegierten auf und erntete einen ordentlichen Applaus.
Im Anschluss die politische Rede Özdemirs stand das „Grüne Energiekonzept“ zur Debatte. Die Grünen setzen auf einen „energiepolitischen Systemwechsel“ und eine „Vollversorgung mit erneuerbaren Energien“, wie es im Antrag des grünen Bundesvorstands heißt. Danach soll es beim Atomausstieg bleiben und es soll einen „Neustart“ bei der Suche nach einem Endlager geben. Die Grünen lehnen neue Kohlekraftwerke ab und fordern, „alle Ölheizungen bis 2015 auszutauschen“. Bis 2030 soll die Stromversorgung auf 100 Prozent Öko-Strom umgestellt werden.
"Es geht ums Ganze!“ steht auf dem Plakat in der Halle 3 der Freiburger Messe. Es stammt noch aus dem letzten Bundestagswahlkampf und zeigt schon erste Spuren der Abnutzung. Die Grünen aber fühlen sich frisch wie nie. Täglich nimmt die Zahl der Parteimitglieder zu. 51.000 sind es derzeit, bald werden es 52.000 sein. Kurz vor Beginn des Parteitags traf sich Özdemir mit 21 Neumitgliedern aus der Region.
Es ist vor allem auch die Wut auf die schwarz-gelbe Atompolitik, die Menschen zu den Grünen treibt. „Ich habe das Brennen in mir, etwas verändern zu wollen“, sagte Gabriela Riegel aus Freiburg Morgenpost Online. Sie hat einst in der DDR für die Wende demonstriert. Heute ist sie empört über die „Lobbyisten-Politik“ in Berlin. „Dafür bin ich 1989 nicht auf die Straße gegangen.“ Im Juli ist sie in die Partei eingetreten. Einen Monat später hat sie begonnen, den Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 zu organisieren.