Sefa Sendogdu ist gebürtiger Leutkirchner, ein fröhlicher Mann. Er lacht viel und erzählt mit süddeutschem Akzent von seiner Kindheit im schönen Allgäu. „Junge, du sollst mal was Ordentliches werden“, sagte sein Vater, Schlosser von Beruf. Nachdem Sendogdu sein Abitur auf einem Münchener Gymnasium gemacht hatte, studierte er Germanistik. Er blieb nicht im akademischen Bereich, Sendogdu ist wohl eher das, was man neudeutsch einen „Macher“ nennt. Er arbeitete als Veranstaltungskaufmann, wurde Chef eines Callcenters, verkaufte Immobilien. Zuletzt leitete er das Konferenz-Center in einem Berliner Hotel.
Alles an Sendogdu ist deutsch – nur seine Eltern sind türkisch. Und doch ist der 38-Jährige vor vier Wochen von Berlin nach Istanbul gezogen. „Ich vermisse Deutschland schon jetzt“, sagt Sendogdu. „Vom Gefühl her ist es meine Heimat – wenn ich es zulasse.“ Aber: Er sei doch immer der Türke geblieben, das sei schlichtweg so gewesen. „Wenn ich in eine Kneipe ging, wenn ich falsch parkte, wenn ich bei der netten alten Dame, die mich am Telefon so sympathisch fand, zur Wohnungsbesichtigung kam.“ Mit einem ausländischen Namen sei es vor allem schwieriger, einen Job zu bekommen, findet Sendogdu. Und bei den Frauen werde man gleich als Macho abgestempelt.
In der Türkei hingegen falle er als Deutscher nicht auf – Sendogdu ist zuversichtlich, dass sein deutscher Akzent im Türkischen bald verschwindet. In Istanbul hat er einen Fliesenhandel übernommen, ist Hauptimporteur in der Türkei. „Hier ist alles eine Stufe gemütlicher“, sagt er. „Wenn eine halbe Stunde nach einem Termin der Geschäftspartner noch nicht da ist, wird niemand nervös. Es ist nicht so distanziert, eher wie in Amerika, auch Geschäftsleute sprechen sich gleich mit Vornamen an.“ Was in der Türkei aber fehle, sei das disziplinierte Arbeiten, daher seien „Deutschländer“ gern gesehen. In der kommenden Woche holt Sendogdu Frau und Kind aus Deutschland nach.
30.000 Menschen in Deutschland sind im vergangenen Jahr aus der Türkei zugewandert – 40.000 haben Deutschland verlassen und gingen in die Türkei. Viele von ihnen sind hoch qualifiziert. Schlecht oder gar nicht Ausgebildete kommen, gut Ausgebildete gehen. Migrationsforscher nennen so etwas Verschleuderung von Humankapital. Denn dem deutschen Staat entgehen viele Millionen Euro. Er finanziert die Ausbildung, doch seine Steuern zahlt der Akademiker später in der Türkei.
Nach einer Studie des Instituts Futureorg erwägen 36 Prozent der Studierenden und Akademiker türkischer Herkunft, in die Türkei abzuwandern. Die Studie unterscheidet zwischen türkischen Akademikern und türkischen Studierenden in Deutschland. Der Hauptbeweggrund für Akademiker, in die Türkei zu ziehen, ist fehlendes Heimatgefühl in Deutschland (41,3 Prozent). Studierende hingegen geben mehrheitlich an, aus beruflichen Gründen abwandern zu wollen (38,5 Prozent). Insbesondere Frauen versprechen sich eine bessere Chance auf dem türkischen Arbeitsmarkt (34,6 Prozent).
Cigdem Akkaya war lange die Vizechefin des Zentrums für Türkeistudien in Essen. Vor sechs Jahren ging sie zurück nach Istanbul. „15 Jahre lang arbeitete ich eigentlich ausschließlich über Themen in einem negativen Kontext. Die Desintegration der Türken, die Renaissance des Kopftuchs, die Muslime in einem christlichen Europa – ich hatte irgendwann genug“, sagt Akkaya. „In Deutschland werden die Türken in öffentlichen Debatten immer infrage gestellt. Ich wollte mich nicht mehr rechtfertigen müssen.“
Akkaya betreibt ein PR-Unternehmen, arbeitet vor allem für deutsche Firmen, unter anderem auch für das Auswärtige Amt. Die Türkei, sagt sie, werde international sehr hofiert. Unter den weltgrößten Volkswirtschaften hat sich die Türkei mit ihrer pulsierenden Metropole am Bosporus inzwischen auf einen beachtlichen 16. Platz vorgearbeitet (siehe rechts). Bis 2026, so eine Studie des IWF, wird sie sogar Italien und Kanada überflügeln und auf den 13. Rang vorrücken.
Auf dem Weg zur ökonomischen Großmacht scheint die Türkei niemand aufhalten zu können. Der türkische Import ist in den ersten sechs Monaten 2010 um 33,6 Prozent gestiegen. Rund 20.000 internationale und 4000 deutsche Firmen sind in der Türkei ansässig. Was vielen qualifizierten Deutschtürken in Deutschland zum Nachteil wird, ist in der Türkei ihr Kapital. Deutsch wird hier gebraucht, während Türkisch in Deutschland kaum jemanden interessiert. In der Türkei ist man sprunghaft, arbeitet auf den letzten Drücker. Wer in Deutschland gelernt hat, Dinge schnell zu erledigen und vorauszuplanen, hat einen Vorteil.
Cigdem Akkaya hat vieles aus ihrem deutschen Alltag mit in die Türkei gebracht. „Ich spreche hier viel mehr Deutsch als früher“, sagt Akkaya. Viele ihrer Freunde sind Deutsche. Ihr Sohn besucht die Deutsche Schule und wird nach dem Curriculum von Nordrhein-Westfalen Abitur machen. Vor vier Jahren gründete Akkaya einen deutschen Stammtisch in Istanbul. Beim ersten Treffen waren sie zwölf, inzwischen sind mehr als 1000 Deutschtürken in Istanbul über den Stammtisch vernetzt. Fast alle, die sich einmal im Monat in einem Café in Istanbuls Partyviertel Beyoglu treffen, sind Akademiker. Viele kommen, weil sie gern Deutsch reden wollen. Andere wollen berufliche Kontakte knüpfen.
„Genauso wie in Deutschland braucht man in der Türkei Netzwerke beim Zugang zum Arbeitsmarkt“, sagt Akkaya. „In Deutschland können die meisten Gastarbeiterkinder auf diese Netzwerke nicht zurückgreifen. In der Türkei haben deutschtürkische Akademiker bessere Aufstiegschancen.“ Beim Stammtisch gibt es keine Missverständnisse. „Wenn jemand A sagt, versteht der andere auch A“, sagt Akkaya. Man ist gemeinsam sozialisiert. Der Treffpunkt bedeutet ein Stück Heimat für viele Rückkehrer, die eigentlich keine sind: In der Türkei fühlen sich viele zunächst völlig fremd.
Alev Karatas, im baden-württembergischen Kraichtal geboren, ging nach Istanbul, nachdem sie in Berlin arbeitslos wurde, weil ihr Arbeitsgeber pleiteging. „Ich wäre sehr gern in Deutschland geblieben“, sagt Karatas, „aber in der Türkei fand ich einfach schneller einen neuen Job. Ich wollte nicht ewig warten.“ 2003 also zog der heute 40-Jährige in ein fremdes Land. Als Soziologin hatte sie viel Theoretisches über die Türkei als Gesellschaft gelernt, in der die Gemeinschaft zählt. „Doch die Türkei ist ein egoistisches Land“, sagt Karatas. „Nichts von dem, was ich zu wissen glaubte, hat sich bewahrheitet.“ Gearbeitet wird 45 Stunden die Woche, das Klima in den Firmen ist autoritärer – und doch ist alles möglich.
Türkisch sprach sie damals längst nicht so gut wie Deutsch. Dennoch machte sie in Istanbul Karriere, zunächst als Managerin in einem Textilunternehmen, heute arbeitet sie für die deutsche Firma Telc, ein Tochterunternehmen des Deutschen Volkshochschulverbandes, das europäische Sprachenzertifikate verleiht. Karatas leitet die Abteilung Qualitätssicherung. In der Türkei schätzt man, ähnlich wie in den USA, Patchwork-Lebensläufe. Karatas empfand das als Geschenk – sie mag es, die Richtung zu wechseln. „Nach vier Jahren in der Textilbranche wollte ich eine neue Herausforderung. Der türkische Arbeitsmarkt ist viel offener.“
Zwar gibt es genug qualifizierte Arbeitskräfte in der Türkei, dennoch stehen hier besonders jungen Akademikern viele Türen offen – Stellenausschreibungen verlangen oft nach Bewerbern unter 30 Jahren. Die Bezahlung liegt bisweilen sogar über der deutschen. Beinahe wäre Karatas im Sommer nach Berlin zurückgekehrt. Für ein Werbeunternehmen sollte sie die Projektkoordination übernehmen.
Letzten Endes aber sagte sie ab – die Agentur hatte sie für 2500 Euro brutto einstellen wollen. In der Türkei verdient sie wesentlich mehr. „Hier kann ich mir einen höheren Lebensstandard leisten.“ Dennoch vermisst sie Berlin. Die Vielfalt, das Grün mitten in der Stadt im Gegensatz zur lärmenden, chaotischen 13-Millionen-Metropole am Bosporus. Doch wahrscheinlich hätte sie in Deutschland weniger Erfolg gehabt als in der Türkei.
Regelmäßig fliegt Karatas nach Berlin oder besucht ihre Schwestern und Nichten, die in Deutschland geblieben sind. „Wer mit türkischen Eltern in Deutschland aufwächst, kann niemals nur deutsch oder nur türkisch sein.“ Sie ist froh, dass sie die aktuelle Integrationsdebatte derzeit nur aus der Distanz wahrnehmen muss. „Wenn man immer nur als derjenige angesprochen wird, der Ärger macht, der anderen auf der Tasche liegt, dann geht einem das an die Knochen“, sagt Karatas. „Ich liebe Deutschland. Aber in der Türkei fühle ich mich gleichberechtigter.“