Immer mehr Eltern und Schüler misstrauen den Schulen in Deutschland und setzen zusätzlich auf private Nachhilfe. 1,1 Millionen Schüler erhalten regelmäßig private Lernhilfe, bis zu 1,5 Milliarden Euro werden dafür jährlich in Deutschland ausgegeben. Das ist das Ergebnis einer Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, die am Donnerstag veröffentlicht wurde.
Demnach hat mindestens jeder vierte 17-Jährige schon einmal Nachhilfestunden genommen oder tut es noch. Auffällig sind dabei die regionalen Unterschiede im Bundesländervergleich sowie die Erkenntnis, dass Kinder immer früher zur Nachhilfe geschickt werden. Die Autoren nennen die Ergebnisse „alarmierend“, Politiker und Lehrerverbände warnen vor einem Zweiklassensystem bei der Schulbildung.
Druck schon in der Grundschule
Die Studie, deren Co-Autor auch im wissenschaftlichen Beirat der Pisa-Tests saß, ist die erste umfangreiche Untersuchung zum Thema, sie stützt sich auf international erhobene Datensätze der vergangenen zehn Jahre. Sie zeigt: Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder schon im Grundschulalter zum Nachhilfelehrer: So erhalten durchschnittlich 14,8 Prozent der Viertklässler Extrastunden in Deutsch.
Nach der vierten Klasse werden in der Regel die Empfehlungen fürs Gymnasium, die Realschule oder die Hauptschule ausgesprochen. Viele Eltern wollen die Entscheidung offenbar durch privates Training beeinflussen. Professor Klaus Klemm, Co-Autor der Studie, sagte Morgenpost Online: „Der hohe Nachhilfe-Anteil bei Primarschülern hat uns überrascht. Wir vermuten, dass der Druck der Elternhäuser schon in diesem Alter zunimmt.“
Dafür spricht, dass längst nicht mehr nur die potenziellen Sitzenbleiber und Adressaten blauer Briefe Lernhilfe bekommen. Der Trend geht im Gegenteil dahin, dass Kinder und Jugendliche mit guten oder befriedigenden Noten zur Nachhilfe geschickt werden, um noch besser zu werden und im vermeintlichen Konkurrenzkampf mit den Altersgenossen Vorteile zu haben. Drei von vier Grundschülern, die zur Nachhilfe gehen, haben einen befriedigenden oder besseren Notendurchschnitt.
Dabei sehen die Experten freiwilliges Lernen unter professioneller Anleitung nicht grundsätzlich als schlecht an. Die aktuelle Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass sich Nachhilfe durchaus positiv auf die Schulleistungen auswirken kann. Bezeichnend ist aber, dass die Eltern und Schüler überhaupt so einen großen Nachholbedarf sehen.
Darin komme „eine erhebliche Skepsis gegenüber dem deutschen Bildungssystem zum Ausdruck“, heißt es in dem Papier. In anderen Ländern wie Finnland, Kanada und den Niederlanden gebe es dagegen kaum Nachfrage nach privaten Zusatzangeboten.
„Der Nachhilfe-Boom ist die Begleiterscheinung eines Schulsystems, das die Kinder allein lässt mit dem, was sie nicht verstanden haben“, sagt Professor Klemm. Als negativen Effekt fürchten Fachleute die Entstehung eines eigenen privaten Unterstützungssystems neben den öffentlichen Schulen – und damit die Gefahr einer Zweiklassenbildung. Denn privater Zusatzunterricht ist teuer, er kann je nach Institut mehrere hundert Euro im Monat kosten. So viel können Eltern mit niedrigen Einkommen oder Empfänger von Sozialleistungen kaum aufbringen.
Bereits jetzt gibt es in Deutschland große regionale Unterschiede bei der Nachhilfenutzung. Besonders hoch ist demnach der Anteil der Nachhilfeschüler pro Jahrgang in Baden-Württemberg und Hamburg (jeweils 19 Prozent), also in Regionen mit hohen Durchschnittseinkommen. Dort werden pro Schüler 131 Euro im Jahr ausgegeben; der Bundesdurchschnitt liegt bei 108 Euro. In den strukturschwachen Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt beträgt der Anteil der Nachhilfeschüler dagegen nur 3,6 Prozent, pro Schüler werden dort 74 Euro jährlich ausgegeben.
Chancengleichheit in Gefahr
Bildungspolitiker und Lehrervertreter warnen deshalb vor Chancenungleichheit. „Wir müssen aufpassen, dass durch schwache Schulen nicht diejenigen benachteiligt werden, die aus Familien mit geringen Einkommen stammen“, sagte der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Ernst Dieter Rossmann, im Gespräch mit dieser Zeitung. Marianne Demmer von der Lehrergewerkschaft GEW sprach von einer „dramatischen Entwicklung“: „Die zunehmende Unterstützung durch das Elternhaus mit privater Nachhilfe, die vom Geld abhängt, verringert die Bildungsgerechtigkeit nochmals.“
Der bildungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Rupprecht, warnte vor bildungspolitischer Hysterie: „Viele Eltern sind verunsichert und nutzen private Zusatzangebote, weil sie das beste für ihr Kind wollen. Das ist nicht immer sinnvoll und sachgerecht“, sagte er Morgenpost Online ONLINE.