Was läuft schief in der deutschen Bildungslandschaft? Ein Forscher sieht unnötig viele heilige Kühe im föderalen System.
Morgenpost Online : Lassen Sie uns über die Heiligen Kühe im deutschen Bildungssystem reden. Auf einer steht geschrieben: „Je kleiner die Klassen, desto besser der Unterricht.“ Stimmt das eigentlich?
Jürgen Baumert : Nein. kleinere Klassen sind kein Allheilmittel. Eine Veränderung der Klassengröße in der Bandbreite zwischen 14 oder 30 Schülern führt nicht automatisch zu einem besseren oder schlechteren Unterricht.
Morgenpost Online : Wenn Sie das sagen, meint man fast schon den entsetzten Aufschrei der Eltern zu hören.
Baumert : Eine solide Studie aus dem USA, das Star-Tennessee-Experiment, in dem Lehrer und Schüler zufällig unterschiedlich großen Klassen zugewiesen wurden, hat ergeben, dass nur in den ersten Schuljahren Fördereffekte einer Klassenverkleinerung nachweisbar sind. Aber selbst in diesem Fall ist die Kosten-Nutzen-Relation ungünstig. Aber solche Aussagen sind oft tabu, weil man nicht mehr an größere Klassen gewöhnt ist. An Waldorffschulen sind Lerngruppen mit 40 Schülern keine Ausnahme. Wichtig ist aber, dass es außerhalb des Klassenverbandes zusätzliche Förderangebote und auch die Möglichkeit zur vorübergehenden Einzelbetreuung gibt.
Morgenpost Online : Und die Lehrer? Viele klagen doch ohnehin über die Arbeitsbelastung.
Baumert : Lehrkräfte müssen große Klassen anders führen und anders unterrichten als kleine, um sowohl schwächeren als auch stärkeren Schülern gerecht zu werden. Dies kann gelegentlich intensivere Unterrichtsvorbereitung erfordern und natürlich steigt der Zeitaufwand, wenn statt 20 zum Beispiel 30 Klassenarbeiten korrigiert werden müssen. Und im Übrigen: Klassengröße hängt weder mit der Berufszufriedenheit noch mit dem Auftreten emotionaler Erschöpfung bei Lehrkräften zusammen. Die Lösung liegt nicht in kleineren Klassen, sondern anderen Arbeitszeitmodellen.
Morgenpost Online : Wie sollte das aussehen?
Baumert : Ein Beispiel: Eine Deutschlehrerin braucht Tage, um einen Klassensatz Oberstufen-Aufsätze zu korrigieren. Andere Fächer sind weniger korrekturintensiv. Trotzdem haben alle Lehrkräfte die gleiche Unterrichtsverpflichtung. Die tatsächliche Arbeits- und Zeitbelastungen muss gerechter verteilt werden. Man bemüht sich zwar vielerorts um Ausgleich; die verfügbaren Instrumente sind jedoch unzureichend.
Morgenpost Online : In Grundsatzreden wird gern noch eine vermeintlich unumstößliche Wahrheit bemüht: Je mehr Geld ins System fließt, desto besser wird der Unterricht. Ist das richtig?
Baumert : Richtig ist, dass unser Bildungssystem unterfinanziert ist. In der Schule wurde mit Hilfe des Bundes in allen Ländern die Baustelle Ganztagsschule eingerichtet. Hier muss die Arbeit weitergehen. Das Gymnasium – jetzt verstärkt durch die Schulzeitverkürzung – wird schon seit langem im Ganztagesbetrieb geführt, ohne über eine entsprechende Ausstattung zu verfügen. Oft fehlt sogar eine Cafeteria. In den Sekundarschulen ist der Ganztangsbetrieb nötig, um die dringenden Förderaufgaben zu erfüllen. Aber es fehlt an sonderpädagogischem und psychologischem Beratungspersonal, an Sozialarbeitern, Sozialpädagogen und Betreuern für kleine Gruppen.
Morgenpost Online : Aber in den vergangenen Jahren ist doch schon einiges passiert…
Baumert : Schulen haben in vielen Bereichen neue Verantwortung übernommen, für Schulentwicklung, Schulprogrammarbeit, Qualitätssicherung, Personalauswahl, schulinterne Fortbildung, Budgetverwaltung etc. Dies alles ist sachlich sehr vernünftig. Aber die Entwicklung der Infrastruktur hat nicht Schritt gehalten. Es fehlt praktisch überall an der Mindestausstattung mit Verwaltungs-, Bibliotheks- und technischem Personal. Oft sind im Budget die Mittel für Erhaltungs- und Instandsetzungsarbeiten nicht vorhanden. Klassenräume sind manchmal so lange unansehnlich, bis Eltern sich erbarmen und sie streichen. Lehrer sind fast den ganzen Tag in der Schule, haben aber oft nicht einmal einen Platz, wo sie ihre Sachen ablegen können. Da ist jede Arbeitsagentur besser ausgestattet.
Morgenpost Online : Obwohl man es hier und da mit Beamten zu tun hat…
Baumert : Es ist eine weitere irrige Annahme, dass Lehrer unbedingt Beamte sein müssten. Die Länder zögern, Lehrkräfte im Angestelltenverhältnis zu beschäftigen, weil die Rentenversicherungsbeiträge den Bildungshaushalt unmittelbar belasten. Pensionszahlungen werden erst einmal auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben und fallen im Innenressort an. Nicht Angestellten- oder Beamtenverhältnis ist die Frage, sondern ob die Besoldungsstruktur hinreichend differenziert ist und ausreichende Leistungsanreize zur Verfügung stehen. Das ist nicht der Fall. Der Beamtenstatus befriedigt das Sicherheitsbedürfnis, nicht den Ehrgeiz.
Morgenpost Online : Länder, die mit gutem Beispiel vorangehen, müssen zusehen, wie die besten Lehrer von verbeamtungsfreudigen, finanzstarken Ländern abgeworben werden. Wie wollen Sie das verhindern?
Baumert : Das kann nur im Schulterschluss aller Länder gelingen.
Morgenpost Online : Eine solche Zusammenarbeit wird durch den Bildungsföderalismus nicht gerade begünstigt. Müsste man da nicht auch dringend nachbessern?
Baumert : Die Grenzen der Funktionsfähigkeit des Bildungsföderalismus werden dann erreicht, wenn in gesamtstaatlicher Verantwortung konstruktive Programme, die Geld kosten, aufgelegt werden sollen, etwa Ganztagsschule oder Sprachförderung. Hier sind die Interessen der Länder zu unterschiedlich. Die Kultusministerkonferenz hat aber ihre Hausaufgaben gemacht, soweit es um Qualitätssicherung und Leistungsstandards geht. Und ein fairer Wettbewerb zwischen den Ländern ist legitim und kann befruchtend sein.
Morgenpost Online : Familien mit schulpflichtigen Kindern, die von Bremen nach Bayern gezogen sind und die Reibungsverluste kennen, sehen das anders…
Baumert : Mobilität in einer modernen Wissensgesellschaft hat ihren Preis. Gleiche Schulqualität auf höchstem Niveau ist eine Illusion. Aber es ist ein großes Verdienst der Vergleichsstudien wie Pisa, für Transparenz gesorgt zu haben. Seither bemühen sich alle um mehr Vergleichbarkeit.
Morgenpost Online : Die standardisierten Tests in Folge von Pisa sind trotzdem sehr umstritten. An Problemschulen wurden sie dieses Jahr sogar boykottiert, weil man sich benachteiligt sah. Verstehen Sie das?
Baumert : Ja und Nein, insgesamt ist der Berliner Vorgang ärgerlich. An den strittigen Vergleichsarbeiten mit dem Namen „Vera“ nehmen alle Dritt- und Achtklässler teil. Aber die Ergebnisse dieser Arbeiten sind nicht öffentlich und sie müssen auch nicht in die Noten der Schüle einfließen. Sie dienen ausschließlich dazu, Lehrkräfte und Schulleiter darüber zu informieren, wo ihre Schüler im Vergleich zu den Erwartungen der Lehrpläne und Bildungsstandards stehen. Schulen in sozialen Brennpunkten, die sich weder in der Schülerschaft noch in der Ausstattung von den Boykottschulen unterscheiden, haben Ergebnisse erreicht, die sogar über dem Landesdurchschnitt lagen.
Morgenpost Online : Viele empfinden die Reformen als extrem träge. Sind Sie zufrieden?
Baumert : Das Bild von der Kultusministerkonferenz als Landschildkröte hat schon Charme. Man kann die Dinge aber auch anders sehen. Das Schulwesen ist mit rund 700.000 Lehrkräften der größte Betrieb in Deutschland, ein Riesentanker, der träge und schwer zu steuern ist. Vor zwanzig Jahren waren Leistungsvergleiche tabu. Jetzt sorgen die Länder selbst für Transparenz und vergleichbare Leistungsstandards. Die Gruppe der Risikoschüler ist etwas kleiner geworden und die soziale Selektivität hat sich leicht verringert. Die erhebliche Reduktion der Sitzenbleiberquoten etwa in Bremen und Schleswig-Holstein ist geradezu erstaunlich.
Morgenpost Online : Es wird viel nachgedacht, wie man Schwache fördert. Was ist mit den überdurchschnittlich Begabten?
Baumert : Bei guten Schülern reicht in der Regel ein variationsreiches Angebot in der Klasse, mit Tipps zum Weiterarbeiten, anspruchsvollen Zusatzaufgaben, Literaturhinweisen und Anregungen zur selbstständigen Weiterarbeit etc. Arbeitsgemeinschaften und Wettbewerbe sind weitere Förderungsinstrumente.
Morgenpost Online : Und die Hochbegabten?
Baumert : Hochbegabte suchen und finden ihren Weg. Sie sind definitionsgemäß nicht nur weit überdurchschnittlich intelligent, sondern oft auch sozial zugewandt und geschickt, lernbegierig, ausdauernd bei Problemen und in der Lage, sich selbst zu beschäftigen. Dass wir von Hochbegabung oft wie von einem Risiko sprechen, liegt daran, dass bei Kindern und Jugendlichen erst dann der IQ ermittelt wird, wenn sie in ihrem normalen Umfeld nicht klarkommen und die Eltern Hilfe bei einer Erziehungsberatungsstelle suchen.
Morgenpost Online : Noch eine heilige Kuh: Das Gymnasium. Der Übertritt von der Grundschule dorthin gehört zu den strittigsten Fragen. Warum?
Baumert : Das Gymnasium ist die prestigereichste Schulform. Deshalb werden soziale und ethnische Ungleichheiten beim Übergang auch besonders sensibel wahrgenommen. Darüber hinaus hat die Bedeutung, die Schulabschluss und das erreichte Qualifikationsniveau für den Lebenslauf haben, in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Deshalb ist auch die Bedeutung des Abiturs gestiegen. Eine Erhöhung der Akademikerquote ist aber auch für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands wichtig.
Morgenpost Online : Auf welcher Schule waren Ihre eigenen Kinder?
Baumert : Unterschiedlich, zum Teil auf dem französischen Gymnasium in Berlin. Dies war ein strenges und geordnetes Gymnasium mit hohen Leistungserwartungen, aber auch französischer Kontrolle. In Wochenabständen wurden die Eltern über den Leistungsstand ihrer Kinder unterrichtet. Bei Verschlechterungen oder unentschuldigtem Fehlen wurde man in die Sprechstunde bestellt. Die Eltern waren gut über den Leistungsstand informiert, standen aber auch selbst unter Beobachtung. Das ist nicht immer angenehm, aber meistens doch ganz heilsam, wenn man den Druck nicht ungefiltert an die Kinder weitergibt.