Wirtschaftskrise

Linke ruft zu sozialen Unruhen in Deutschland auf

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Franz Solms-Laubach

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Die Linke in Nordrhein-Westfalen ruft offen zu sozialen Unruhen in Deutschland auf. Proteste und Widerstand sollten aber gewaltfrei bleiben, sagte Landesvorstand Andrej Hunko Morgenpost Online. Der Begriff der sozialen Unruhe dürfte nicht nur mit Gewalt und Faschismus vebunden werden. Seine Vorbilder sieht er im Hier und Jetzt.

Die Linke hat in Nordrhein-Westfalen offen zu "sozialen Unruhen" aufgerufen. "Raus aus den Wohnzimmern und rauf auf die Straße", forderte Andrej Hunko, Landesvorstandsmitglied und Bundestagskandidat der Linken in Nordrhein-Westfalen im Gespräch mit Morgenpost Online ONLINE. Nichts sei jetzt schlechter als "soziale Friedhofsruhe".


Als Beispiel für gelungene Massenproteste nannte Hunko Island und Frankreich. Das Beispiel Islands zeige, dass kontinuierliche Proteste sogar zu einer neuen Regierung führen und so die politischen Verhältnisse im Land ändern könnten. Das könne in Deutschland nur durch soziale Unruhen geschehen.


In Frankreich bestehe eine völlig andere Protestkultur als in Deutschland. "Der Aufbau einer französischen Kultur des sozialen Protestes, des Widerstandes und der gesellschaftlichen Solidarität ist auch in Deutschland dringend notwendig", sagte Hunko.

Fast 80 Prozent der Deutschen für soziale Proteste

Er rechtfertigte seinen Aufruf mit den Ergebnissen einer Emnid-Umfrage aus der vergangenen Woche, nach der sich 32 Prozent der befragten Deutschen persönlich an Demonstrationen und Protesten angesichts der Krise beteiligen wollten. 79 Prozent hatten in der Umfrage erklärt, sie hätten Verständnis für solche Proteste.


"Dies ist ein großartiges Signal, dass die Menschen in diesem Land nicht länger bereit sind, die Kosten der Krise zu tragen, für die sie nicht verantwortlich sind", sagte Hunko. Bisher seien in Deutschland Gewinne immer privatisiert worden, als Folge der Weltwirtschaftskrise würden jetzt mit den Beschlüssen der großen Koalition die Verluste sozialisiert und so auf den Steuerzahler abgewälzt. Das müsse sich andern.


Der Begriff "sozialen Unruhen" werde derzeit bewusst herabgesetzt. "Soziale Unruhen werden in der gegenwärtigen Debatte gezielt mit Gewalt und Faschismus in Verbindung gebracht. Das Beispiel Island zeigt das genaue Gegenteil: Sozialer Protest gegen die Krise kann eine Regierung stürzen, Neuwahlen erzwingen und neue gesellschaftliche Hoffnung erzeugen", sagte Hunko. Der Protest müsse jedoch friedlich sein. Gewalt habe dabei keinen Platz.


Als gelungenes Bespiel solcher Proteste in Deutschland nannte Hunko die Montagsdemonstrationen gegen Sozialabbau aus dem Jahr 2004. Ab August fanden damals als Reaktion auf die Arbeitsmarktreformen und die Hartz-IV-Gesetze bundesweit größere Demonstrationen statt.


Die Finanzkrise zeige, dass der Kapitalismus abgewirtschaftet habe und in wesentlichen Teilen reformiert werden müsse. "In diesem Sinne ruft die Linke in NRW zu sozialen Unruhen auf, zum Beispiel auf der DGB-Demonstration für ein soziales Europa am 16. Mai, für die aus NRW 10 Sonderzüge eingesetzt werden", sagte Hunko. Nichts wäre angesichts der tiefsten Krise des Kapitalismus mehr zu befürchten als soziale Friedhofsruhe.


Die Bundesregierung mache in einem fehlgeleiteten Krisenmanagement lediglich weiter wie bisher, "was jedoch wirklich notwendig ist, ist ein soziales Konjunkturprogramm", sagte Hunko Morgenpost Online. Dieses Konjunkturprogramm müsse einen Mindestlohn von zehn Euro, eine Anhebung des Regelsatzes von Hartz IV und ein Grundeinkommen für alle beinhalten.

Politikexperte sieht keine Gefahr von Unruhen

Der Tübinger Politikwissenschaftler Josef Schmid relativierte die Wahrscheinlichkeit sozialer Unruhen in Deutschland wegen der Wirtschaftskrise.


"Wenn man unter sozialen Unruhen mehr versteht als öffentliche Proteste, Verlust an Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Regierung oder gar in die Politik insgesamt, dann sind diese Warnungen, wie ich finde, übertrieben", sagte Schmid der Ulmer "Südwest Presse".


Hinter den Warnungen vor sozialen Unruhen steckt nach Schmids Auffassung die Forderung, bei der Milliarden Euro teueren Rettung von Banken und Großunternehmen die Menschen, die Opfer der Krise sind, nicht zu vergessen.


DGB-Chef Michael Sommer hatte vorige Woche vor sozialen Unruhen in Deutschland gewarnt und ein neues 100-Milliarden-Euro-Programm der Bundesregierung gefordert. Die SPD-Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten, Gesine Schwan, hatte gemahnt, die Stimmung in der Bevölkerung könne im Zuge der Wirtschaftskrise explosiv werden. Linke-Chef Oskar Lafontaine hatte daraufhin bereits gefordert, den Protest auf die Straße zu tragen. Das Verbot politischer Streiks müsse aufgehoben werden. Lafontaine redete einem poltischen Generalstreik das Wort.


Der Politikwissenschaftler Schmid sagte, wirtschaftliche Konflikte würden in Deutschland zunächst zwischen den Tarifparteien ausgetragen. "Die Straße ist nicht das übliche Instrument. Das ist auch so in der politischen Kultur bei uns verankert - ganz im Unterschied zu Frankreich."


Gegen Unruhen spricht aus Schmids Sicht auch die soziale Sicherheit. "Trotz aller Angst vor Hartz IV und Kritik am raschen sozialen Abstieg Betroffener federt der Sozialstaat immer noch die wichtigsten sozialen Härten ab."