Welt am Sonntag : Frau Kraft, was halten Sie von Parteifreunden, die eine Koalition mit den Linken in NRW ausschließen wollen?
Hannelore Kraft : Wir haben seit 2005 eine klare Haltung: Wir suchen die Auseinandersetzung und nicht die Zusammenarbeit. Die Linkspartei in NRW ist weder regierungswillig noch regierungsfähig. Ihr Wahlprogramm ist teilweise völlig realitätsfern. Auf ihrem Parteitag haben viele T-Shirts mit der Aufschrift getragen: „Wir sind stolz darauf, linke Spinner zu sein.“ Das sagt doch eigentlich alles.
Welt am Sonntag : Warum aber schließen Sie eine Koalition nach der Landtagswahl am 9.Mai nicht klar aus?
Hannelore Kraft : Das muss ich nicht. Wir wollen ein Bündnis mit den Grünen. In Umfragen ist Rot-Grün nur noch einen Prozentpunkt von Schwarz-Gelb entfernt. Wir arbeiten uns nicht an der Linkspartei ab. Wir als SPD wollen vorne liegen, und wir wollen die Linkspartei aus dem Landtag raushalten.
Welt am Sonntag : Können Sie sich eine große Koalition mit Jürgen Rüttgers vorstellen?
Hannelore Kraft : Wir wollen diese Regierung ablösen. Sie hat dieses Land in den vergangenen fünf Jahren nicht nach vorne gebracht. In mehreren unabhängigen Ländervergleichen ist NRW zurückgefallen. Wir müssen dringend umsteuern. Nur ein Beispiel: Wir lassen viel zu viele Kinder einfach zurück. Jeder Fünfte bleibt ohne Schulabschluss oder Ausbildung. Das können wir uns weder sozial noch wirtschaftlich leisten. Wirkliche Erfolge in der Bildungspolitik sind daher ein zentraler Faktor für die Zukunft Nordrhein-Westfalens. Wir haben den Mut, Strukturen zu verändern, während die CDU hier noch im Mittelalter feststeckt.
Welt am Sonntag : Die Bildungspolitik wird Ihr wichtigstes landespolitisches Thema?
Hannelore Kraft : Ja, denn wir haben ein Schulsystem, in dem auf neun Absteiger nur ein Aufsteiger kommt. Faktisch werden die Kinder mit neun Jahren in Schubladen sortiert, aus denen sie nicht wieder herauskommen. Das schafft einen enormen Druck, der auf den Schülern, Eltern und Lehrern lastet. Es gab neulich einen interessanten Zeitungsbericht, in dem sich Kinderpsychologen zu Wort melden, die deutlich machen, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen und der Selbstmordversuche bei Jugendlichen enorm ansteigt. Als einen der Gründe nennen sie den Druck im Schulsystem. Das muss uns zu denken geben. Ein durchlässiges Schulsystem mit einem längeren gemeinsamen Lernen ist daher unsere Alternative.
Welt am Sonntag : CDU und FDP fordern eine Entschuldigung dafür, dass Sie pauschal den Zusammenhang von Schulsystem und Selbstmorden behaupten.
Hannelore Kraft : Wir können dieses dramatisch wachsende Problem nicht ignorieren, sondern müssen ehrlich darüber diskutieren, warum die Versagensängste so stark zugenommen haben. Eltern und Kinder erleben doch schon in der Grundschule einen unerträglichen Leistungsdruck. Da erhalten Kinder schon in der zweiten Klasse Nachhilfe, damit sie auch bloß die Empfehlung fürs Gymnasium schaffen. Dieses System ist krank und macht krank.
Welt am Sonntag : Sie betonen in Ihren Reden oft die hoch verschuldeten Kommunen.
Hannelore Kraft : Das ist ein weiteres wichtiges Thema. Die Kommunen sind in einer Vergeblichkeitsfalle: Auch wenn sie noch so viel sparen, wachsen die Schulden immer weiter. Die Unterhaltskosten von Langzeitarbeitslosen steigen immer weiter an. Für einen vorsorgenden Sozialstaat brauchen wir aber handlungsfähige Kommunen.
Welt am Sonntag : Wie sollte eine Landesregierung den Kommunen denn da überhaupt helfen können?
Hannelore Kraft : Wenn wir in der Lage sind, für systemrelevante Banken „Bad Banks“ aufzubauen, dann können wir auch für Kommunen eine Art „Bad Bank“ schaffen. In NRW nennen wir unser Modell dafür den „Stärkungspakt Stadtfinanzen“: Die NRW.Bank übernimmt für fünf Jahre die Altschulden der Kommune, und das Land kommt für die Zinsen auf. Dann können die Gemeinden wieder investieren. Aber auch Berlin ist in der Pflicht. In einem Punkt lasse ich deshalb nicht locker: Ich kann nicht einsehen, dass Städte wie Duisburg oder Oberhausen sich verschulden müssen, um ihren Solidaritätsbeitrag für den Osten zu entrichten. Das kann nicht sein. In diesem Jahr steht im Bundestag und Bundesrat das Solidarpakt-Fortführungsgesetz zur Revision an. Wir fordern, den kommunalen Anteil von etwa 42 Prozent zu halbieren.
Welt am Sonntag : Nun drängt die Hartz-Debatte in den Landtagswahlkampf.
Hannelore Kraft : Die Äußerungen von Herrn Westerwelle sind unsäglich. Auch deshalb, weil er keine Lösung nennt, wie er denn sicherstellen will, dass derjenige, der arbeitet, mehr hat als derjenige, der Hartz IV erhält. Wir sind nicht der Auffassung, dass man die Sätze weiter absenken kann. Wir sind der Auffassung, dass die Menschen wieder bessere Löhne bekommen müssen, damit der Lohnabstand vom anderen Ende her gewährleistet ist. Deshalb fordern wir den gesetzlichen Mindestlohn. Doch dieser Debatte verweigern sich CDU und FDP. Deutschland ist in Europa einer der letzten Mohikaner, die keinen Mindestlohn haben.
Welt am Sonntag : Hartz ist für die SPD ein heikles Thema, weil es viele Wähler gekostet hat. Wie stehen Sie zu Hartz?
Hannelore Kraft : Wir haben eine ganze Reihe von Wahlen verloren, und wir haben Vertrauen verloren. Das hing sicherlich auch mit dem Thema Hartz zusammen. Das Problem ist, dass die, die sehr lange gearbeitet haben, sehr schnell auf dem Niveau sind mit denen, die nie eine Schüppe in die Hand genommen haben. Um dieses Problem zu lösen, erarbeiten wir in der SPD gerade Vorschläge. Es nützt aber nichts, sich vollständig von Hartz zu verabschieden, weil die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe richtig ist. Auch den Grundsatz „Fördern und fordern“ würde ich nach wie vor unterschreiben.
Welt am Sonntag : Plädieren Sie auch für eine Umbenennung der Hartz-Gesetze?
Hannelore Kraft : Der Begriff Hartz ist ungünstig, keine Frage. Es geht uns aber vor allem um eine inhaltliche Erneuerung, und da gibt es keine einfachen Lösungen. Es ist nichts gewonnen, wenn neue Ungerechtigkeiten entstehen.
Welt am Sonntag : Die FDP will härtere Sanktionen gegen Arbeitsunwillige.
Hannelore Kraft : Das ist alles populistischer Mist. Da soll eine gesellschaftliche Stimmung angeheizt werden für die von der FDP geplanten massiven Sozialkürzungen nach der NRW-Landtagswahl. Doch das wird nicht gelingen. Natürlich gibt es auch Missbrauch bei Hartz IV. Aber die Mitarbeiter in den Argen und Jobcentern beziffern den Missbrauch auf unter zehn Prozent. Und es gibt längst die Möglichkeit zu Sanktionen. Das ist aber nicht der Kern des Problems.
Welt am Sonntag : Was sonst?
Hannelore Kraft : Der Kern des Problems ist, dass wir mehr Arbeitsplätze brauchen, von denen die Menschen leben können. Das erreiche ich nicht, in dem ich den Weg in die Dumpinglohngesellschaft über die Ausweitung der Leih- und Zeitarbeit, von 400-Euro-Jobs oder Kettenverträgen immer weiter forciere. Das schafft keine sicheren Perspektiven für die Menschen.
Welt am Sonntag : Jürgen Rüttgers fordert die Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen. Ist das eine Möglichkeit?
Hannelore Kraft : Das ist doch auch populistisch. Wenn ich die Hinzuverdienstgrenzen erhöhe ohne Mindestlohn, werden auf einen Schlag Hunderttausende als sogenannte Aufstocker zusätzlich Hartz-IV-berechtigt. Und auf der anderen Seite werden die anständigen Arbeitgeber die Dummen sein. Ein Unternehmer, der nur an seinen Profit denkt, stellt doch keinen Festangestellten mehr ein, sondern holt sich einen oder mehrere Hartz-IV-Empfänger und zahlt denen 400 Euro – ohne Steuern oder Sozialversicherung zu zahlen. Ein noch größeres Ausbluten unserer Sozialversicherungssysteme wäre die Folge. Es kann doch nicht sein, dass bei Menschen, die für einen Hungerlohn arbeiten gehen, wir Steuerzahler etwas oben drauflegen und damit indirekt die Gewinne dieser Unternehmen bezahlen. Das ist keine gute Perspektive für unser Land.
Welt am Sonntag : Sie haben Herrn Westerwelle vorgeworfen, mit seinen Vorstößen in der Sozialstaatsdebatte am rechten Rand zu fischen. Sollten sich demokratische Parteien so beschimpfen?
Hannelore Kraft : Es ist aber so. Schauen Sie sich einmal die Argumentationslinien von Herrn Berlusconi in Italien, früher von Herrn Haider in Österreich oder von den rechten Republikanern in den USA an. Da finden Sie erstaunliche Parallelen.