Der Iran-Experte David Menashri sieht den Iran an einem Wendepunkt. Mit ihrer Unzufriedenheit vertreten die Oppositionellen weit mehr Menschen, als auf die Straßen gehen. Es wird ihnen auch gelingen, einen Systemwechsel herbeizuführen. Doch sie müssen es schaffen, bevor der Iran über eine Atombombe verfügt.
Morgenpost Online: Herr Menashri, steht der Iran an einem Wendepunkt?
David Menashri: Wir erleben im Moment eine ernsthafte Herausforderung für die islamische Revolution. Selbst, wenn es dem Regime gelingen sollte, die Unruhen noch einmal niederzuschlagen, so wird es doch nicht einfach sein, die Unzufriedenheit und die Desillusionierung, die hinter diesem Protest stehen, zu beheben. Die Wurzeln liegen nicht nur in den Wahlen vom Juni. Es geht um weit mehr. Die Leute sind nach 31 Jahren tief enttäuscht von den Ergebnissen der Islamischen Revolution. Die Iraner kämpfen seit vielen Jahren um zwei Dinge: Brot und Freiheit. Sie haben das Gefühl, keines von beidem erreicht zu haben.
Morgenpost Online: Welche Rolle spielt die Wahl Barack Obamas für die Proteste?
Menashri: Präsident Obama kam mit einem Versprechen: Menschen zu helfen, die unterdrückt werden. Es ist in der Geschichte oft passiert, dass ein amerikanischer, demokratischer Präsident mit einer starken Menschenrechtsagenda im Iran Erwartungen auslöste, die zu Unruhen führen. Das passierte 1951 mit Truman im Weißen Haus, 1961 mit Kennedy, 1978 mit Carter und nun wieder.
Obama hat den Iranern einen Dialog angeboten und ihnen gezeigt, dass es einen anderen Weg gibt mit Amerika zu reden. Es ist also eine Kombination von Unzufriedenheit und dem Obama-Effekt, und das, obwohl Obama im Juni zehn Tage brauchte, bevor er sich öffentlich zu den Protesten zu Wort meldete. Die Regierung ist aber immer noch im Vorteil. Sie hat alle Macht und die Institutionen in ihrer Hand. Und sie haben von ihrer eigenen Revolution vor 31 Jahren gelernt. Sie sagen sehr klar: Wir werden nicht zulassen, dass die uns antun, was wir dem Schah angetan haben.
Morgenpost Online: Die Auseinandersetzungen scheinen gewaltsamer zu werden. Hat sich der Charakter der Bewegung verändert?
Menashri: Wir sehen noch keine Massen auf den Straßen. Es ist ein Segment aus der Mittelschicht, das vor allem für Freiheit kämft. Die Bewegung ist immer noch begrenzt, weil sie eine eingeschränkte Anziehungskraft ausübt. Die Reformer müssten auch über soziale Fragen reden, über Essen, über die Kluft zwischen Arm und Reich. Die Sicherheitskräfte setzen im Moment aber mehr Gewalt ein, als eigentlich notwendig wäre, um zwei wichtige Signale zu senden: Sie wollen der Opposition zeigen, dass es nun genug ist. Aber sie wollen auch ihren eigenen Unterstützern signalisieren, dass das System nicht zusammenbrechen wird. Es ist wichtig für sie, dass sie auch ihren eigenen Leute die Macht des Regimes demonstrieren.
Morgenpost Online: Sind die Verhaftungen von Verwandten prominenter Reformpolitiker und die Erschießung von Mussawis Neffen Teil dieser Strategie?
Menashri: Wenn es eine Strategie ist, dann ist es eine falsche. Das letzte, was das Regime nun braucht, ist neue Symbole, Helden oder Märtyrer zu schaffen. Ob es vor einigen Monaten die erschossene Neda war oder nun der Neffe von Mussawi: Das hilft der Regierung nicht. Es ist ja nicht nur der Tod einer Person, sondern auch, was danach passiert. Dass sie keine Beerdigung haben dürfen. Das schafft einen immer wieder neuen Zyklus von Wut in der Opposition.
Morgenpost Online: Wie wird das den Nuklearstreit beeinflussen? Könnte sich das Problem durch Regimewechsel lösen?
Menashri: Es gibt zwei Züge, die den Bahnhof von Teheran verlassen haben. Der eine trägt die Botschaft des Regimewechsels, der andere die Nuklearisierung des Irans. Es gibt sicher eine Art von Beziehung zwischen beiden. Aber bisher haben wir gesehen, dass der Atomzug weit schneller gefahren ist. In letzter Zeit holt der andere Zug jedoch auf. Ich weiß nicht, ob der Zug der gesellschaftlichen Veränderung tatsächlich an sein Ziel kommen wird. Man kann nie vorhersagen, wann die Leute in Massen, zu Millionen auf die Straße gehen. Wir haben die französische Revolution nicht vorhergesehen, die kommunistische ebenso wenig, nicht mal den Zusammenbruch der Sowjetunion.
Morgenpost Online: Was können wir also tun?
Menashri: Es gibt drei Ebenen: Die erste ist ein von Amerika geführter Dialog mit dem Iran. Damit sendet man ein Signal aus, dass man bereit ist, mit ihnen auf zivilisierte Art zu reden. Wenn das nicht funktioniert, kann man Druck auf Iran ausüben. Etwa diplomatischer und moralischer Druck. Ein Beispiel: Das einzige Mal, dass Europa geeint ein hartes Signal nach Teheran gesendet hat, war 1997 nach dem Berliner Mykonos-Urteil. Damals haben alle bis auf ein EU-Land ihre Botschafter aus Iran abgezogen. Das war eine wichtige symbolische Geste.
Vor kurzem hat Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi die europäischen Staaten aufgefordert, ihre diplomatischen Beziehungen auf das Niveau von Geschäftsträgern herunterzustufen. Denn sie weiß, dass Iran auf das hört, was die Welt sagt. Man muss moralischen Druck auf Iran ausüben. Und das wird nicht ausreichend getan. Schauen sie doch nur mal die Gefängnisse des Iran an und die jungen Leute. Man muss die Regierung in Teheran unter Druck setzen, damit sie ihren Menschen nicht weiter das antut, was man im Fernsehen sieht.
Dieses Regime ist nun verletzbar und leidet. Revolutionsführer Chamenei hat sich selbst erniedrigt, er hat sich auf die Seite von Ahmadinedschad gestellt. Von einer überparteilichen Institution wurde er zu einem Politiker. Dieses Regime, das einst gegründet wurde auf Moral, Religiosität und Ideologie stützt sich nun allein auf die Macht der Revolutionswächter und der Bassidsch.
Es ist also eine komplett neue Situation. Die Iraner sind sehr engagiert, die Jungen sind gut ausgebildet und weltoffen. Die iranische Zivilgesellschaft hat sich in den letzten 30 Jahren sehr erfolgreich entwickelt. Am Ende wird es ihnen gelingen, diesen Wandel herbeizuführen. Ob das geschieht, bevor das Regime eine Bombe hat – darauf habe ich keine Antwort.