Der Mann schreit fast. Das haben sie schon immer getan in Verhören. Aber diesmal ist es anders. „Das geht so nicht weiter“, sagt er. „Es geht nicht, dass Sie so viel Wirbel machen. Dass Sie gegen die Islamische Republik und ihre Regierung agitieren. Dass Sie ständig Interviews geben. Es geht nicht, dass Sie immer noch nicht Ruhe geben, obwohl Ihre Eltern schon elf Jahre tot sind.“ Seit elf Jahren kämpft Parastou Forouhar um die Wahrheit darüber, wer in der iranischen Führung den Mord an ihren Eltern befohlen hat, dem prominenten Regimegegner Dariusch Forouhar und seiner Frau Parwaneh. Weil sie keine Ruhe gibt, lässt man ihr keine Ruhe. Nicht, wenn sie aus Deutschland in ihre Geburtsstadt Teheran kommt, um des Todes ihrer Eltern zu gedenken. Das tut die 46-jährige Künstlerin jedes Jahr im Winter. Doch diesmal will man sie nicht wieder weglassen.
Seit den Ausschreitungen wegen der umstrittenen Präsidentenwahl vom Juni 2009 ist Teheran sorgfältig von der Außenwelt abgeschirmt. Unabhängige Berichterstattung wird unterbunden, Telefon und Internet werden überwacht. „Ich wusste, dass es gefährlicher würde als sonst“, sagt Forouhar. „Das haben mir die Leute gesagt, mit denen ich telefoniert habe. Mutige Leute, die selbst verhört wurden. Sie haben gesagt, ich soll nicht kommen dieses Jahr.“ Aber sie will unbedingt fahren. Weil sie es ihren Eltern schuldet und den Menschen, die mit ihnen gekämpft haben. Aber auch, weil sie neugierig ist.
Am Flughafen lässt man sie problemlos durch die Passkontrolle. Niemand ist da, um sie zu warnen, wie sonst. Und die Stadt ist anders. „Es ist wie Karneval. Anders kann ich es nicht sagen – bunt und penetrant.“ Die wild wuchernde Acht-Millionen-Metropole hat eine Aktion für ein schöneres Teheran ausgerufen. Und nun versinkt alles in grellen Farben. Statt der üblichen Wandgemälde würdiger Ayatollahs bedecken nun gewaltige Kitschkompositionen die Fassaden: Schmetterlinge, Wolken und Mondsicheln. Die Behörden haben einen dicken, bunten Teppich über die rastlose Stadt geworfen.
Alle reden vom Aufstand
Aber die Menschen scheinen dagegen anzureden. „Sie reden vom Aufstand. Jeder. Überall. Selbst auf der Straße erzählt man sich, was wieder passiert ist, wo junge Leute auf die Straße gegangen sind, wo man wieder Menschen zusammengeschlagen hat.“ Und dieses endlose Gespräch, sagt Forouhar, ziehe sich durch alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten. Das, was wir im Westen als „Internetrevolution“ beobachten, sei nur die Ableitung davon, das digitale Echo. Dieses stete Gespräch sei lebensnotwendig. „Wenn die Menschen auf die Straße gehen, dann sind sie unangreifbar. Bis sie nach Hause zurückkehren und sich vereinzeln. Dann kommen die Sicherheitsdienste und nehmen sie mit. Einen nach dem anderen.“
Darum die Angst vor dem Alleinsein, die Selbstvergewisserung, die Erzählungen von spontanem Zusammenhalt. Von den alten Frauen eines Hauses etwa, die immer dann schnell zusammenlaufen und eingreifen, wenn die Polizei einen Studenten mitnehmen will. Die Mundpropaganda funktioniert, ohne dass sie jemand steuert.
Während Parastou Forouhar in den letzten Novemberwochen 2009 Vorbereitungen für den Todestag ihrer Eltern trifft, stehen durchgehend Beamte in Zivil vor dem Gebäude und notieren jede Bewegung. Es ist ein neuralgischer Punkt in der Topografie der Hauptstadt. Das Totengedenken spielt eine wichtige Rolle in der schiitischen Tradition Irans. Aber im Fall der Familie Forouhar kann aus dem Gedenken auch immer eine Demonstration werden, dafür sorgen die Anhänger der Verstorbenen und ihrer verbotenen Iranischen Nationalpartei. Mit ihr kämpften die Forouhars seit den 50er-Jahren für einen demokratischen Iran und halfen später den Mullahs um Ruhollah Chomeini, den Schah zu stürzen. Dariusch wurde Arbeitsminister in der ersten Regierung nach der Revolution und trat zurück, als sich abzeichnete, dass die Mullahs mit Demokratie nichts im Sinn hatten. Sie hassten Forouhar, weil der nicht aufhörte, ihre Grausamkeiten anzuprangern.
Süßigkeiten zum Todestag
Wenn eine Familie den Todestag eines Verwandten begeht, dann beginnt sie damit schon am Vorabend, so wie es Islam und Judentum für fast alle Feiertage vorschreiben. Die Familie bereitet kleine Teller mit Halwa vor, goldbraunem Konfekt aus Mehl und Rosenwasser, und garniert sie mit gehackten Pistazien. Wenn es dunkel wird, geht man von Haus zu Haus und verteilt die Süßigkeit an die Nachbarn. Niemand würde dieses Geschenk ablehnen, egal wer der Tote war. Doch diesmal schreitet die Polizei ein.
Am nächsten Morgen sind nicht nur Absperrungen da, die Straße ist voller Sicherheitskräfte. Aber plötzlich ziehen sie sich zurück, die Sperren werden abgebaut. Da bekommt Parastou Forouhar Angst. „Wenn sie kommen und dich zusammenschlagen, dann ziehen sie vorher die Beamten ab, damit es keine Zeugen gibt.“ Selbst eine Diktatur braucht den Anschein von Legitimität, darum scheut sie das offensichtliche Verbrechen.
In dem Haus, in dem Parastou Forouhar jetzt festsitzt mit zwei betagten Tanten, einem Onkel und dem alten Haushälter ihrer Eltern, ist das Verbrechen offensichtlich. Dort ist fast alles so stehen geblieben, wie in der Nacht, in der Dariusch und Parwaneh Forouhar starben: der Stuhl in der Bibliothek, den die Mörder in die Mitte des Raumes gestellt und Richtung Mekka gedreht haben, weil Opfertiere in diese Richtung blicken müssen; und daneben der Gehstock, der bei der Leiche lag, als man Dariusch Forouhar erstochen auf dem Stuhl fand. Er hatte seinen Gürtel abgelegt, wie man es tut, wenn man ins Gefängnis geht. Seine Frau fand man im Morgenmantel vor einer Kommode, in der sie Dokumente aufbewahrte.
An diesem 21. November weiß Parastou Forouhar nur einen Rat: „Ich habe zum Telefon gegriffen und Freunde angerufen“, sagt sie, „die alten Freunde meiner Eltern, die ältesten, so viele wie möglich, und habe sie gebeten herzukommen.“ Alte Menschen werden die Schlägertruppen des Regimes nicht schlagen, hofft sie.
Zum Verhör gibt es Tee
Sie sperren die Straße wieder ab, errichten mit Hunderten Beamten, Fahrzeugen, Barrieren eine zwei Kilometer breite Sperrzone um das Haus, die niemand betreten darf. So erfährt jeder im Viertel, dass dort etwas vor sich geht. Und damit ist die Gefahr fürs Erste vorbei. Erst Tage später greift das Regime zu. Da sitzt Parastou Forouhar schon im Flughafen vor dem Abflugschalter. Der Pass wird ihr abgenommen und einbehalten. Sie muss in Teheran bleiben. Nach wochenlangem Warten und Kämpfen erfährt sie, dass ihr vorgeworfen wird, die Islamische Republik in Interviews beleidigt zu haben. Das Informationsministerium hat Anzeige erstattet. Also geht Parastou Forouhar in jene Geheimdienstzentrale, zu der die Spuren im Mordfall ihrer Eltern geführt hatten, als die Ermittlungen nach vier Jahren offiziell eingestellt wurden.
Als Parastou Forouhar dem Geheimdienstmann gegenübersitzt, schweigt er minutenlang. Erst dann fängt er an zu schreien. Und die Frau schreit zurück. Dass es ihr Recht sei, ihrer toten Eltern zu gedenken. Dass es nicht sein könne, dass man noch immer nicht die Wahrheit über den Mord sage, nach elf Jahren. Sie schreit so laut, dass jemand die Tür schließt. Und es könne nicht sein, dass man sie daran hindere, Halwa in der Nachbarschaft zu verteilen. Da wird der Geheimdienstmann unsicher. Das könne er sich nicht erklären, sagt er, das werde er prüfen, und Parastou Forouhar bittet um eine Tasse Tee. Sie ist etwas heiser. Den Tee bekommt sie. Und ein paar Tage später bekommt sie auch den Pass. Am 20. Dezember fliegt die Künstlerin nach Deutschland zurück.
Wenn sie in ihrer Wohnung in Offenbach am Main sitzt und all das erzählt, ist ihre Anspannung zu spüren, aber es ist schwer zu sagen, wie viel davon Angst ist und wie viel Wut, wie viel Erleichterung, aus Teheran herausgekommen zu sein, und wie viel Sorge um das, was dort gerade geschieht. Sie hält Kontakt zu ihren Freunden, versucht zu helfen, wie man ihr geholfen hat, in Iran und in Deutschland. Nicht vergessen werden, das ist wichtig, und sich selbst nicht zu vergessen. „Der Tee zum Beispiel“, sagt Parastou Forouhar, und da klingt sie das erste Mal ein wenig stolz, „indem ich den Tee verlangt habe, habe ich ihn daran erinnert, dass ich ein Mensch bin. Wenn man das schafft, dann fragt sich der andere vielleicht, was er da gerade mit dir macht und warum eigentlich.“