Der 6. Juni 2008 war ein ganz normaler Tag auf den deutschen Autobahnen. Auf dem südlichen Berliner Ring, der A 10, bremste im Morgengrauen ein mit Kranteilen beladener Lkw aus der Ukraine unter einer Eisenbahnbrücke plötzlich ab.
Der Lastwagen dahinter, er kam aus Polen, raste ungebremst in ihn hinein. Der deutsche LKW-Fahrer hinter dem polnischen sah den Unfall zu spät. Auch er fuhr auf den Vordermann auf – der Fahrer aus Magdeburg starb noch an der Unfallstelle.
Der Beifahrer im polnischen Laster wurde im Wrack zu Tode gequetscht. Die Feuerwehrleute, die ihn später bargen, übergaben sich. Sie konnten den Anblick nicht ertragen. Zwei Lkw-Fahrer überlebten den Unfall schwer verletzt. Die Strecke war über Stunden voll gesperrt. Es war ein ganz normaler Tag auf einer deutschen Autobahn.
Das Unglück geschah an dem Ort, den die Autobahnpolizisten in Brandenburg nur noch das „Nadelöhr“ nennen. Das Dreieck, wo A 2, A 9 und A 10 zwischen Brandenburg und Berlin ineinander fließen, ist einer der Brennpunkte im europäischen LKW-Verkehr. Gerade dort wird die Situation von Tag zu Tag brenzliger, seitdem die Grenzen zu Osteuropa offen sind. Aber nicht nur dort allein. Die Zahl der Lastwagen auf deutschen Autobahnen nimmt dramatisch zu, und mit ihr die Zahl der Unfälle.
Ein Ausschnitt: Allein auf der A 10 zählte die Polizei 2006 noch 525 LKW-Unfälle, im vergangenen Jahr waren es schon 969 – Tendenz steigend. 2006 starb auf der A.10 ein LKW-Fahrer, im vergangenen Jahr waren es fünf. In diesem Jahr sind jetzt schon fünf LKW-Fahrer auf der A 10 gestorben.
An einem anderen ganz normalen Tag hat die Polizei auf der A 2 kurz vor dem Berliner Ring einmal die vorbei fahrenden Fahrzeuge gezählt. Sie kam auf 55.000 – davon allein 13.000 Lkw. Von Osteuropa in den Rest der EU führt kaum ein Weg an dem „Nadelöhr“ südwestlich von Berlin vorbei. Schon jetzt zählt dieser Bereich zu den gefährlichsten Streckenabschnitten in Deutschland.
Kein Wunder: Die Bundesrepublik, mitten in Europa, ist zum Transitland des europäischen LKW-Verkehrs geworden. Und seine Autobahnen zum Nutzesel boomender osteuropäischer Wirtschaften. Der gesamte Gütertransport auf allen Verkehrswegen in Deutschland stieg 2007 um 4,8 Prozent auf 4,4 Milliarden Tonnen. Ein Zuwachs, der zu Lasten der deutschen Straßen und Autobahnen ging – sie tragen einen Anteil von 77 Prozent der Gütertransporte. Weder die Einführung der Lkw-Maut 2005, noch die steigenden Dieselkosten haben das Wachstum bremsen können.
Wer meint, die Autobahnen stünden heute schon vor ihrem Kollaps, ahnt nicht, was in den kommenden Jahren auf Deutschlands Straßen noch zurollt: Bis zum Jahr 2025 erwartet das Verkehrsministerium eine Steigerung des Güterverkehrs auf der Straße um 84 Prozent. Auf einer dreispurigen Autobahn wären dann die beiden rechten Spuren reine LKW-Spuren. Auf zweispurigen Strecken käme ein normaler Verkehr zum Erliegen. Noch nicht eingerechnet in die düsteren Prognosen sind die Schäden, die die Masse an Lastwagen auf den deutschen Autobahnen anrichten. Die Ausbesserungen des Asphalts werden den Bund im kommenden Jahr vermutlich zwei Milliarden Euro kosten.
Die Autobahnpolizisten im Schutzbereich Brandenburg kennen die Prognosen und blicken schon heute mit Sorgenfalten auf ihr „Nadelöhr“. Lange haben sie hilflos zusehen müssen, wie sie trotz ihrer Kontrollen die steigenden Unfallzahlen in ihrem Zuständigkeitsbereich einfach nicht vermeiden konnten. Sie stehen vor demselben Grundproblem wie die Verkehrspolitiker: Die zunehmende Verkehrsdichte werden sie nicht aufhalten können. Also wollen sie die „Verkehrsteilnehmer“ erziehen. Wenn schon die Autobahnen voll sind, dann sollen wenigstens die Unfälle abnehmen.
Die Brandenburger Autobahnpolizisten haben sich vor wenigen Wochen ein neues sogenanntes „Verkehrsunfallkonzept“ ausgedacht, das eigentlich ganz simpel ist: Ab jetzt wird jeden Tag kontrolliert und geahndet. Auch sonntags. Denn übermüdete, zu schnelle, aber vor allem zu dicht auffahrende LKW-Fahrer lassen sich jeden Tag finden. „Abstandsverstöße sind die Hauptursache bei Unfällen mit LKW-Beteiligung“, sagt Heiko Schmidt, Polizeisprecher im Schutzbereich Brandenburg. So wie auch beim Unfall am 6..Juni mit den beiden Toten. Die drei Lkw waren einfach zu dicht beieinander.
An einem ganz normalen Autobahntag Ende Juli ist Schmidt mit dabei, als seine Kollegen eine Großkontrolle auf der A 2 und der A 10 durchführen. „Den Kontrolldruck erhöhen“ und „Flächendruck erzeugen“ wolle man, sagt Schmidt. Es ist ein Dienstag, 10.30 Uhr, und die Autobahnpolizisten fahren schwere Geschütze auf. Über ihren Köpfen kreist ein Tragschrauber und filmt Abstandsverstöße. Der Mini-Hubschrauber ist neu. Und er ist nur eines der vielen Mittel, mit dem die Polizei der täglichen Anarchie auf den Autobahnen Herr werden will.
An mehreren Stellen haben sich die Beamten postiert, filmen und fotografieren Geschwindigkeits- und Abstandsverstöße. Sie haben sich mit Hightech ausgerüstet. Denn wenn es eine Sache gibt, die Verkehrspolizisten hassen, dann sind es Gerichte, die Fotobeweise eines Verkehrsdelikts als unzureichend abweisen. Man habe auch schon darüber nachgedacht, Verkehrsrichter zu den Autobahnkontrollen einzuladen, sagt der Brandenburger Polizeidirektor Sven Bogacz. Die wüssten manchmal einfach nicht, welche Szenen sich hier täglich auf den Autobahnen abspielen würden.
Dichter Verkehr herrscht an diesem Dienstag auf den Autobahnen rund um den südlichen Berliner Ring. Ab und zu bleibt ein Laster mit einer Panne auf dem Seitenstreifen stehen. Die Brandenburger Polizei protokolliert: Bei einer 40-km/h-Zone rauscht ein Lkw mit 89 km/h an dem Blitzgerät vorbei. Ein Reisebus bringt es sogar auf 90 Sachen. 244 LKW-Fahrer haben bei der fünfstündigen Kontrolle den Sicherheitsabstand von unter 50 Metern nicht eingehalten.
LKW-Fahrer halten ihre Ruhezeiten fast nie ein
Bei einer Stichprobe lotsen die Beamten dann noch 51 LKW-Fahrer aus dem Verkehr auf einen Parkplatz. Mehr als die Hälfte von ihnen hat die Ruhezeit unterschritten oder die Lenkzeit überschritten.
Einer von ihnen ist Wojtek. Wie bei jedem echten Trucker steht auch sein Name auf einem Schild in der Windschutzscheibe. Er hat eigentlich keine Zeit. Es passt ihm gar nicht, dass er mit seinem 20-Meter-Gefährt nun heraus gewunken wird. Kaum ist Wojtek aus der Fahrerkabine ausgestiegen, begrüßt ihn schon ein Polizist. Er mustert zuerst Wojteks grauen LKW mit polnischem Kennzeichen und dann den polnischen Fahrer selbst. Wojtek schwitzt, hat einen roten Kopf. Ob er ihn mal anhauchen könne, fragt der Polizist. Wojtek versteht nicht. Also macht es der Polizist ihm vor.
Nun beugt sich Wojtek ungelenk nach vorn und pustet zurück. Der Polizist schnuppert bedächtig und nickt zufrieden. Kein Alkohol. Der 40-Jährige Fahrer muss am selben Tag noch in die Region Oppeln, dort ist seine Spedition beheimatet. Dann will er nach Hause, nach Kattowitz zu seiner Frau und seiner Tochter. Er hat sich zu kurze Pausen bei seiner Tour gegönnt. Das haben die Polizisten auf seinem Fahrtenschreiber abgelesen. Wojtek nimmt es gelassen. Die Strafgebühr von 30 Euro wird ihm sein Arbeitgeber erstatten. Etliche Speditionen verfahren so. Anders sind die Zeitpläne der Lkw-Fahrer oftmals kaum einzuhalten.
„Wir wollen eine Verhaltensänderung bei den Lkw-Fahrern erreichen“, sagt Polizist Heiko Schmidt nach der Großkontrolle. Doch welcher Lasterfahrer will sich von der Polizei erziehen lassen? Wojtek jedenfalls lässt die Kontrolle entspannt über sich ergehen. Er sagt: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich kontrolliert werde, hätte ich mich heute morgen rasiert.“