Deutsche Geschichte

Gladbeck – Geiseldrama mit Reporter auf der Rückbank

| Lesedauer: 34 Minuten
Anne Klesse

Es war eines der schlimmsten Verbrechen und eine der dunkelsten Stunden des Journalismus’ in Deutschland. Vor 20 Jahren spielten Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner mit dem Leben ihrer Opfer – und der Sensationsgier der Öffentlichkeit. Aus einem Banküberfall wird ein Geiseldrama. Eine Rekonstruktion der Ereignisse.

Dr. Ali Kemmuna ist spät dran. Er hat verschlafen, das ist dem 53-jährigen Facharzt für Innere Medizin noch nie passiert. 20 Minuten später als sonst parkt er seinen roten Mercedes auf dem Parkplatz am Einkaufszentrum in Gladbeck-Rentfort, direkt hinter der kleinen Filiale der Deutschen Bank. Es ist kurz vor acht.

Jetzt aber schnell. Das Terminbuch ist voll an diesem Dienstag, dem 16. August 1988. Er hastet durch die Einkaufspassage, vorbei am „Hubertus-Grill“. Auf Höhe der Bankfiliale hört Ali Kemmuna plötzlich aufgeregtes Stimmengewirr. Aus dem Augenwinkel registriert er Herrn A., den Bankkassierer, der in der Schalterhalle kniet und das Schloss der gläsernen Innentür versperrt. Hinter ihm steht ein großer maskierter Mann, breitbeinig, und drückt dem Kassierer eine Pistole in den Nacken. Der Arzt schaltet sofort: ein Überfall. Er kennt Reinhold A., der 35-Jährige ist Patient bei ihm. Kemmuna rennt die Treppenstufen hoch zu seiner Praxis im ersten Stock. Atemlos greift er nach dem Telefon.

Um 8.04 Uhr geht beim Polizeiamt Gladbeck der Notruf ein. Der diensthabende Beamte notiert die Uhrzeit, den Anrufer. Banküberfall, Person bewaffnet. Zwei Streifenwagen fahren in die Schwechater Straße 38. Obwohl sie sich ohne Martinshorn und ohne Blaulicht nähern, werden sie im Inneren der Bank sofort registriert. Die Räuber verschanzen sich mit ihren Geiseln. Vor dem Gebäude steht das Fahrzeug, mit dem sie hierher gekommen sind, eine rote Honda 250. Das Motorrad ist gestohlen, ein Polizeibeamter vermutet gleich: Das sieht nach dem Rösner aus.

Gemeint ist der Gladbecker Hans-Jürgen Rösner, 31 Jahre, groß, Vollbart. Sein halbes Leben hatte er im Gefängnis verbracht, bis er vor zwei Jahren während eines Hafturlaubs flüchtete. Am ganzen Körper ist er tätowiert, auf den Fingern der linken Hand hat er das Wort „Hass“ stehen, auf der rechten „Love“. Von Freunden wie Dieter Degowski, den er auf der Sonderschule kennen lernte, wird er nur „Hanusch“ genannt.

Der Banküberfall wird zur Geiselnahme

Der Polizist hat die richtige Vermutung. Es ist Rösner. Mit seinem Freund Dieter hat er die Bank überfallen: Dieter Degowski, 32 Jahre, ebenfalls ein Mann mit beachtlichem Vorstrafenregister. Mit 15 wurde er beim Zigarettenklauen erwischt, nach einer abgebrochenen Metzgerlehre saß er mehrmals wegen Diebstahls im Gefängnis. Er ist der Unsicherere der beiden. Degowski stottert, ist ein Trinker und tablettenabhängig. Eigentlich sollte alles schnell über die Bühne gehen: Rein in die Bank, das Geld holen, raus aus der Bank, verschwinden.

Nun ist alles anders, doch das Gangsterduo denkt nicht ans Aufgeben. Die beiden sind bewaffnet: Rösner hat eine Pistole dabei, Degowski einen Trommelrevolver. Und sie haben Bankkassierer Reinhold A. und die Kundenberaterin Andrea B. (24) in ihrer Gewalt. Ihre Forderung an die Polizei: 300.000 Mark, den zweiten Tresorschlüssel des Filialleiters, um an das Geld in der Bank zu kommen, und ein Fluchtauto.

Aus ganz Nordrhein-Westfalen zieht die Einsatzleitung der Polizei ihre Beamten nach Gladbeck. Stunden vergehen. Die Polizei hofft, dass die Warterei Degowski und Rösner zermürbt. Es gibt etliche Telefonate mit den Geiselnehmern. Da die Telefonleitung der Bankfiliale nicht gekappt wird, rufen auch immer mehr Journalisten an, führen Interviews mit den Verbrechern und den beiden Geiseln. Gegen 18.10 Uhr kommt es schließlich zur Geldübergabe. Ein halbnackter Polizist muss Plastiktüten mit 300.000 Mark vor die Tür der Bank legen, Kassierer A. auf allen Vieren mit einem Kabel um den Hals und bedroht durch Rösners Waffe, das Geld ins Innere schaffen. Als auch das Fluchtauto bereit steht, beginnt die zweite Phase des Dramas.

Die Geiselnehmer gehen einkaufen, die Polizei folgt ihnen

Um 21.47 Uhr, knapp 14 Stunden nachdem die beiden Erpresser die rote Honda 250 vor der Bank abgestellt hatten, startet Rösner vor laufenden Fernsehkameras den erpressten Fluchtwagen. Im von der Polizei präparierten Audi 100 fahren die beiden davon, mit der Beute und zwei verängstigten Geiseln. Statt möglichst schnell zu verschwinden, bleiben sie zunächst in Gladbeck. An einer Tankstelle kaufen sie Zigaretten, woanders noch Bier und Süßigkeiten, in einer Apotheke Medikamente. In einem Imbiss fordert Rösner mit vorgehaltener Waffe Frikadellen und Huhn. Dann bezahlt er mit einem Geldschein aus der Beute. Weil die Geiselnehmer (richtig) vermuten, dass das Fluchtauto verwanzt ist, stehlen sie an einer Tankstelle ein neues. Um 0.45 Uhr fahren sie bei Rösners Schwester Monika vor, um seine Lebensgefährtin Marion Löblich abzuholen. Gegen 3.30 Uhr folgt der nächste Halt, eine längere Pause an der Autobahnraststätte Grönegau. Die gesamte Irrfahrt über werden sie von der Polizei verfolgt, die jedoch zu keinem Zeitpunkt versucht einzugreifen.

Am nächsten Morgen parken sie um 8.23 Uhr vor dem Café Dickhut in der Hagener Innenstadt. Rösner bestellt Frühstück. Erst jetzt erkennt die Polizei, dass es sich bei der in der Nacht zugestiegenen Person um Marion Löblich handelt.

Nach dem Frühstück fahren die Geiselnehmer wieder auf die Autobahn, diesmal in Richtung Bremen. Dort kennt sich Marion Löblich aus, ihre Eltern wohnen hier. Kurz nach ein Uhr mittags parkt sie das Auto in der Fußgängerzone in Bremen-Vegesack. Mit ihrem Freund „Hanusch“ bummelt sie durch die Geschäfte, kaufen T-Shirts, Turnschuhe, Unterwäsche. Auch eine schwarze Lederjacke für Degowski. Dieser wartet im Auto und bewacht Kassierer A. und Kundenberaterin B. Nach einem kurzen Abstecher nach Delmenhorst, wo sie bei einer Autovermietung einen neuen Wagen, einen blauen BMW, erzwingen, fahren sie zurück nach Bremen.

Rösner wird nervös

Silke Bischoff hat an diesem Mittwochabend eher Dienstschluss als Ines Voitle. Weil die beiden Freundinnen gemeinsam zu Ines fahren und dort Videos gucken wollen, wartet die hübsche junge Frau mit dem hellblonden langen Haar die letzte Stunde in der Bremer Zoohandlung, in der Ines Auszubildende ist. Die beiden 18-Jährigen kennen sich schon aus Kindertagen, sie sind zusammen aufgewachsen, zusammen zur Schule gegangen. Silke will Staatsanwaltsgehilfin werden. Ines zählt noch die Kasse und räumt im Laden auf, dann brechen sie auf. Sie bummeln noch ein bisschen durch die Stadt, gucken sich die Auslagen in den Schaufenstern an. Dann fahren die Freundinnen mit der Straßenbahn zum Busbahnhof Bremen-Huckelriede. Hier müssen sie in den Bus der Linie 53 umsteigen, die bis nach Kattenesch fährt, wo die beiden leben: Ines mit ihrer Mutter und deren neuem Freund, Silke bei ihren Großeltern. Der Bus steht schon bereit. Sie setzen sich auf eine freie Bank, die vom Fahrer aus gesehen vorletzte, links vor der Mitteltür. Ines sitzt am Fenster, Silke am Gang.

Um 18.20 Uhr filmen Journalisten das Fluchtauto der Gladbecker Bankräuber, wie es in der Nähe des Busbahnhofes Bremen-Huckelriede hält. Rösner wirkt nervös, fühlt sich offenbar verfolgt und droht, weitere Geiseln zu nehmen, wenn sich die Polizei nicht zurückzieht. Er schießt zweimal in die Luft. Dann packt er Kassierer A., Degowski schnappt sich die Bankmitarbeiterin Andrea B..

Immer mehr Menschen drängen in den Bus – Journalisten

Ines Voitle blättert gerade in der „Bravo“, als sie den Busfahrer aufgeregt in sein Funkgerät rufen hört. Er habe Schüsse gehört und wolle nicht losfahren. „Ich bin doch nicht lebensmüde“, schreit er. Dann geht plötzlich alles ganz schnell. Ein großer tätowierter Mann steht vor der gläsernen Tür, richtet eine Waffe auf den Busfahrer, zwingt ihn, aufzumachen. Der Mann springt in den Bus, fuchtelt mit der Pistole herum und brüllt, sie seien jetzt alle Geiseln.

Ines Voitle fühlt sich wie gelähmt. Sie sieht einen zweiten Mann mit einer schwarzen Lederjacke einsteigen, dann eine Frau mit schulterlangem Haar, dunkelblond, und tiefen Augenringen. Ein weiterer Mann und eine Frau werden auf die Bank hinter dem Busfahrer geschubst. Immer mehr Menschen drängen herein, offensichtlich Journalisten, sie haben Fotoapparate und Kameras, richten ihre Objektive auf Ines und Silke, auf ein Geschwisterpaar wenige Reihen hinter ihnen und auf die anderen Passagiere. Es blitzt und surrt, es ist laut und unübersichtlich. Die Fernsehzuschauer werden später sehen, wie Rösner und Degowski in aller Ruhe Bierdosen und Plastiktüten in den Bus laden. Sie werden die beiden ernsten Gesichter von Ines Voitle und Silke Bischoff sehen und wie der 15-jährige Italiener Emanuele de Giorgi schützend den Arm um seine neunjährige Schwester Tatiana legt. Ein Reporter wird live vor Ort die Forderungen der Geiselnehmer vortragen: ein neues Fluchtfahrzeug, nicht präpariert, einen unbewaffneten gefesselten Polizeibeamten, Handschellen. Ines wagt einen Blick auf die Armbanduhr, es ist halb acht.

Reporter führen Interviews mit den Verbrechern

Jürgen Lemmermann hat, wie jeden Feierabend, kurz nach seiner schlafenden Tochter geschaut. Jetzt sitzt der 39-Jährige im Wohnzimmer und starrt auf den Fernseher. Ein rot-weißer Bus der Bremer Straßenbahn AG (BSAG) wird gezeigt. Durch die Fenster kann man zwei Männer und eine Frau erkennen, die Schusswaffen tragen. Lemmermann sieht weinende Menschen im Bus. Eine Geiselnahme. Er braucht einen Moment, bis er begreift. Dann nimmt er das Telefon und wählt die Nummer seines Büros. Er erreicht seinen Chef, den Pressesprecher der BSAG. Sie besprechen sich kurz, dann ist für Lemmermann klar: er muss da hin. Als Mitarbeiter der Pressestelle wird er jetzt gebraucht, die Telefone hören nicht auf zu klingeln, das Medieninteresse ist enorm.

Im Bus werden Ines Voitle und die anderen Fahrgäste gezwungen, sich in den hinteren Teil zu setzen. Sie sieht einen alten Mann, der den Geiselnehmern seinen Behindertenausweis vorhält, einen anderen, der über Herzprobleme klagt. Beide werden freigelassen. Der Busfahrer schimpft, dass er jetzt Feierabend habe. Auch er darf gehen. Ines Voitle sieht sich um. 27 Menschen sind im Bus gefangen. Darunter etliche Kinder.

"Wenn keiner kommt knall ich sie weg!"

Die Forderungen der Geiselnehmer werden nicht erfüllt. Vor laufenden Kameras verkündet Rösner, ab sofort „nur noch durch die Medien“ sprechen zu wollen. Die Reporter stehen in einem Halbkreis um den Geiselnehmer, der seine Pistole locker unter den rechten Arm geklemmt hat und einen Hundert-Mark-Schein in die Kameras hält. Er lasse „gerade die Scheine von dem Kassierer überprüfen, weil da kannste auch Miniwanzen einsetzen.“ Ein Reporter fragt: „Wie lange wollen Sie das denn hier noch fortsetzen?“ Antwort: „Ja, wir werden einige Forderungen stellen und wenn man die nicht erfüllt, dann knallt es.“ Rösner sagt das ganz gelassen, als sei es das Normalste der Welt. In der Übertragung des WDR wird eine sogenannte Bauchbinde mit seinem Namen eingeblendet, ein farblich unterlegter Hinweis am unteren Bildrand: „17/08/1988 Hans-Jürgen Rösner“. Reporter laufen durch das Bild, stellen sich neben den Geiselgangster und schreiben mit. Als Rösner „die letzte Möglichkeit“ demonstriert, sich die Pistole in den Mund schiebt („Ich hab elf Jahre Knast hinter mir, war von Anfang an im Erziehungsheim und solche Scheiße alles, ich scheiß auf mein Leben. Und das mein ich ganz im Ernst.“) sind die Auslöser zahlreicher Fotoapparate zu hören. Dieses Bild wird später überall gezeigt werden.

Ein weiteres Foto, das um die Welt gehen wird, entsteht um 21.07 Uhr. Rösner zerrt das italienische Mädchen vor den Bus und hält ihr die Waffe an den Kopf. Er brüllt: „Wenn keiner kommt knall ich sie weg!“ Es kommt niemand. Drohungen und Forderungen laufen ins Leere. Gegen 21.50 Uhr verlassen die Geiselnehmer mit dem Bus und allen Insassen die Haltestelle. Am Steuer sitzt der 57-jährige Paul Mikolajczak, der seinen Kollegen abgelöst hat. Man wird ihn später als Helden feiern. Doch er selbst wird direkt nach der Geiselnahme einen Herzanfall erleiden und über die Ereignisse nie hinweg kommen.

Jürgen Lemmermann pendelt zwischen seinem Büro, der Pressestelle der BSAG, und der Betriebsleitstelle hin und her. Im Pressebüro steht ein Fernseher, dort kann er zum Teil live die Geschehnisse in Huckelriede verfolgen. In der Leitstelle haben die Kollegen Funkkontakt zum Busfahrer. Lemmermann kennt Herrn Mikolajczak, der Fahrer arbeitet seit Jahren bei der BSAG, ist als zuverlässig und geradlinig bekannt. Auch jetzt funkt er regelmäßig die Leitstelle an, gibt Informationen durch. Die Kollegen am Funkgerät sind aufgewühlt. Trotzdem empfindet Lemmermann die Stimmung als konzentriert. Hier läuft alles zusammen, der Kontakt mit dem entführten Bus, mit der Polizei und der Presse.

Interviews mit vorgehaltener Waffe

Während der Fahrt auf der Autobahn 1 in Richtung Hamburg ist es sehr ruhig im Bus. Ines Voitle beobachtet, wie sich die Geiselnehmer mit dem Mann und der Frau unterhalten, die sie hinter den Busfahrer gesetzt haben. Es sind die Bankangestellten Reinhold A. und Andrea B.. Sie sind seit mittlerweile 38 Stunden in der Gewalt von Rösner und Degowski. Plötzlich entscheiden sich die Geiselnehmer um, wollen in Richtung Niederlande fahren. Weil Rösners Freundin Marion Löblich auf Toilette muss, hält der Bus gegen 22.50 Uhr an der Raststätte Grundbergsee. Andrea B. und Reinhold A. sollen frei gelassen werden – im Austausch bieten sich Pressefotograf Peter Meyer und der Hamburger Journalist Wolfgang Kempf an.

Ines Voitle und ein paar von den anderen dürfen ebenfalls auf Toilette. Sie werden begleitet von der bewaffneten Marion Löblich. Auf dem Rückweg zum Bus wird diese plötzlich von Polizisten überwältigt. Vor dem Bus kann Ines Voitle Degowski erkennen, er drückt ihrer Freundin Silke Bischoff den Revolver an den Kopf. Ein Fernsehreporter hält ihm ein Mikro hin: „Sind Sie wirklich bereit, Leute umzubringen?“. Degowski starrt vor sich hin, nickt: „Ja.“ Dann wendet sich der Reporter an Silke Bischoff: „Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?“ Antwort: „Na, eigentlich ziemlich gut dafür, dass….mir ist das alles gar nicht so bewusst irgendwie.“ Degowski sieht sie an und lächelt: „Zu jung.“ Er drückt ihr die Waffe unter das Kinn. Der Reporter hakt nach: „Können Sie sich vorstellen, dass er wirklich abdrückt?“ Sie: „Nö.“

Polizeifehler mit tödlicher Folge

Ines Voitle hat Angst. Alles ist so unwirklich. Als alle wieder im Bus sitzen, beobachtet sie draußen, hinter geparkten LKW, mehrere Männer. „Vermutlich Polizisten“, denkt sie. Und hofft, dass der Zugriff kurz bevor steht. Sie bedeutet dem italienischen Jungen auf dem Sitz vor ihr, Emanuele, und dessen kleiner Schwester Tatiana, sich vorsichtshalber schon mal zu ducken.

In der Leitstelle der BSAG sind plötzlich alle sehr aufgeregt. Über Funk hören sie, wie im Bus gebrüllt wird. Die Geiselnehmer sind über irgendetwas verärgert. Lemmermann und seine Kollegen können nicht genau verstehen, was passiert ist. Dann hören sie einen lauten Knall. Jemand hat geschossen. Die Uhr an der Wand zeigt 23.06 Uhr.

Nachdem Marion Löblich nicht von der Toilette zurückgekehrt war, hatte Degowski einen der umstehenden Reporter mit einem Ultimatum zur Polizei geschickt: Marion soll kommen oder eine Geisel wird erschossen. Als diese nach sechs Minuten noch nicht wieder da ist, lässt Degowski kurz von Silke Bischoff ab, richtet den Revolver auf den Kopf von Emanuele de Giorgi und drückt ab. Sekunden später steht Marion Löblich im Bus. Sie schreit Degowski an. Auch Rösner brüllt. Die übrigen Geiseln sind entsetzt.

Polizisten, Journalisten, Schaulustige – kein Rettungswagen

Ines Voitle fasst sich als erste. Sie will helfen, weiß aber nicht wie. Der Junge röchelt. Er lebt. Sie fleht die anderen um Hilfe an. Niemand rührt sich. Ines Voitle schleift Emanuele nach vorne, dann übernehmen die beiden Reporter, die vor wenigen Minuten gegen die Bankangestellten eingetauscht wurden. Sie tragen den Schwerverletzten aus dem Bus, rufen nach einem Notarzt. Vergeblich. Auf dem Parkplatz sind Polizisten, Journalisten, Schaulustige – aber kein Rettungswagen. Da die Autobahn gesperrt ist, braucht der alarmierte Krankenwagen viel zu lange. Der 15-jährige Emanuele de Giorgi stirbt. Fast zeitgleich verunglückt ein Bremer Polizist auf dem Weg zur Raststätte tödlich.

Sofort nach dem Schuss muss Busfahrer Paul Mikolajczak wieder auf die Autobahn in Richtung Niederlande fahren. Im Fahrzeug ist es stickig, es riecht nach Schweiß, Blut, Urin. Ines Voitle ist erschöpft. Sie versucht zu schlafen. Plötzlich hört sie wieder Schüsse. Rösner zielt auf ein Taxi, das schon eine zeitlang dicht neben dem Bus fährt und in dem er Verfolger von der Polizei vermutet. Doch die hält sich weiterhin im Hintergrund, im Taxi sitzt Manfred Protze, Reporter der Deutschen Presse-Agentur.

Die ersten Geiseln kommen nachts frei

In der Leitstelle der BSAG wird es ruhig. Der Funkkontakt zum entführten Bus ist abgebrochen. Lemmermann hat zig Presseanfragen beantwortet, Informationen herausgegeben so gut er konnte. Er ist müde. Im Fernsehen wird berichtet, dass bei dem Schuss, den er und seine Kollegen über Funk hören konnten, ein Junge getötet wurde. Niemand sagt etwas. Lemmermann fühlt sich hilflos. Ein bisschen sitzen sie noch zusammen, dann fährt er nach Hause. Zumindest kurz duschen und ein frisches Hemd anziehen.

Nachts um 2.28 Uhr überquert der Bus bei Bad Bentheim die holländische Grenze. Rund fünf Kilometer weiter lassen Degowski und Rösner anhalten. Ines Voitle wacht auf. Sie sieht, wie der Busfahrer weggeschickt wird, um bei der Polizei, die den Bus wohl die ganze Zeit verfolgt hat, einen schnellen Fluchtwagen zu organisieren. Der nette grauhaarige Mann, der sie alle so sicher durch die Nacht gefahren hat, verschwindet in der Dunkelheit. Und kommt wenig später mit einem Funkgerät zurück, über das Rösner und Degowski mit der niederländischen Polizei verhandeln. Diese verspricht einen BMW – wenn im Gegenzug die Kinder und Jugendlichen freigelassen werden. Die Geiselnehmer gehen darauf ein, Ines Voitle winkt der kleinen Tatiana zum Abschied zu. Der Bus fühlt sich plötzlich leer an.

Degowski will Silke Bischoff als Geisel – Ines Voitle geht mit

Beim Umladen der Beute und der Verpflegung vom Bus in das neue Fluchtauto löst sich aus Versehen ein Schuss. Die Kugel aus Rösners Waffe trifft den Oberschenkel von Marion Löblich, Busfahrer Mikolajczak wird an der Hand verletzt. Völlig übermüdet und betrunken, wie Degowski mittlerweile ist, glaubt der offenbar, die Polizei habe das Feuer eröffnet und schießt wahllos in den Wald. Ines Voitle wirft sich auf den Boden des Busses. Neben ihr kauert ihre Freundin Silke. Sie rufen den anderen Geiseln zu, sich ebenfalls hinzulegen. Sie hören, wie Rösner ins Funkgerät brüllt, der Schuss sei ein Versehen gewesen, nicht gegen die Polizei gedacht. Als wieder Ruhe einkehrt, versorgt er die beiden Verletzten mit Binden aus dem Verbandskasten.

Ines Voitle hat ein ungutes Gefühl. Degowski starrt seit Beginn immer wieder ihre Freundin Silke an. Und tatsächlich: als die Fahrt im BMW fortgesetzt werden soll, will er sie als Geisel. Ines hat Angst, dass ihre Freundin durchdrehen könnte, allein mit dem Verbrechertrio. Ohne lange zu überlegen bietet sie an, mitzukommen. Rösner setzt sich ans Steuer, Marion Löblich auf den Beifahrersitz. Silke und Ines müssen sich auf die Rückbank drängen, zwischen ihnen sitzt Degowski. Er riecht nach Schweiß, Ines sehnt sich nach einer Dusche, nach Ruhe. Und Freiheit. Die Sonne geht auf, es wird hell. Um 7.07 Uhr passieren sie die Grenze. Rösner fährt auf der Autobahn 1 in Richtung Köln. Der Getränkevorrat geht zur Neige. Ines hat Durst.

Die Geschichte von Express-Reporter Udo Röbel

Udo Röbel ist außer Atem. Seine fünfte Tennisstunde lief ganz passabel. Aber Sport am frühen Morgen ist anstrengend. Er duscht, zieht sich in der Umkleidekabine an: weißes Hemd, dunkelblaues Sakko, violette Krawatte. Ein Blick auf die Armbanduhr, er hat noch Zeit. Vor elf, zwölf Uhr ist selten jemand in der Redaktion. Udo Röbel ist stellvertretender Chefredakteur des Kölner „Express“. Der 38-Jährige hat die letzten Tage durchgearbeitet, hatte deshalb gestern frei. Er setzt sich in die Cafeteria der Tennishalle, bestellt einen Kaffee und zündet sich eine Zigarette an. Noch diesen einen Tag, dann hat er zwei Wochen Urlaub. Endlich. Mit seiner Lebensgefährtin soll es in die Türkei gehen, eine Busrundreise. Sein Blick schweift zu dem kleinen Fernsehgerät über der Theke. Seit Dienstagnachmittag hat er keine Nachrichten mehr verfolgt, einfach die Freizeit genossen. Es läuft eine Sondersendung über eine Geiselnahme. Der Sender zeigt Bilder aus der Nacht, einen Mann, der einer hübschen Blondine eine Waffe an den Hals drückt, einen Bus auf einer Raststätte, einen blutüberströmten Jungen. Die Täter seien weiter auf der Flucht, heißt es. „Super, der Tag ist gerettet“, denkt Röbel. Über die Schlagzeile von morgen braucht er sich keine Gedanken zu machen.

"Die stehen da unten vor der Tür"

Gegen 9.30 Uhr fährt Rösner von der Autobahn ab. Wuppertal. Sie machen einen kurzen Halt an der „Wupper-Apotheke“, versorgen sich mit Medikamenten, Rösner kauft in der Backstube nebenan belegte Brötchen. Dann geht es weiter in Richtung Köln.

In der Redaktion sieht es aus wie jeden Morgen: Im großen Nachrichtenraum rattern die Fernschreiber, drucken alle paar Sekunden neue Agenturmeldungen. In langen Papierschlangen wellen sich diese auf dem Boden. Udo Röbel ist allein, auch der Redaktionsbote, der morgens die Meldungen nach Themengebieten sortiert, ist noch nicht da. Röbel kniet sich zwischen die Papierberge, beginnt zu lesen. Der Bote kommt. „Ist ja ein dickes Ding, was da passiert“, murmelt Röbel, eine Nachricht zur Geiselnahme in der Hand. Der Kollege deutet zum Fenster: „Die stehen da unten vor der Tür!“ Röbel schaut ungläubig auf. „Doch doch, die sind gerade gekommen, die parken direkt vor unserer Tür“, sagt der Redaktionsbote noch einmal. Udo Röbel guckt sich kurz um, noch immer niemand da. Kein Reporter, kein Fotograf. „Das darf ja wohl nicht wahr sein“, ruft er und hastet zum Fahrstuhl.

Ines Voitle kann in einiger Entfernung den Kölner Dom erkennen. Rösner fährt in die Fußgängerzone Breite Straße und hält vor einem Kaffeestand. Sie stehen wenige Meter neben dem Pressehaus, in dem auch der Kölner „Express“ seine Redaktionsräume hat. Als Rösner mit Kaffee zurückkommt, hat sich eine kleine Menschentraube um das Auto gebildet.

Udo Röbel erkennt den tätowierten Mann sofort. Möglichst lässig nähert er sich dem Auto, stellt sich vor, fragt: „Kann man mit Ihnen reden?“ Man kann. Später wird er sich nicht erinnern, worum es im Einzelnen ging. Irgendwann fragt er: „Sehen Sie eine Möglichkeit, die Situation friedlich zu beenden? Kann ich irgendetwas tun?“

Röbel steigt auch in den Fluchtwagen

Ines Voitle fühlt sich bedrängt. Immer mehr Menschen kommen, Reporter, Fotografen, Gaffer. Sie umringen das Auto, stecken Mikrofone durch die herabgelassenen Fenster, stellen unsensible, unsinnige Fragen. Wie es ihnen gehe. Ob sie Angst hätten. Sie bemerkt, dass Degowski nervös wird, immer wieder entsichert er seinen Revolver, richtet ihn auf Silke, legt ihn wieder hin, sichert, entsichert wieder. Es ist stickig im Auto. Rösner schwitzt, ihm kleben die Haare auf der Stirn. Plötzlich reißt er die Autotür auf, richtet seine Pistole auf die Menschenmenge vor dem Wagen. Auch er ist nervös, vermutet offenbar Polizisten in Zivil. „Weg da, aber schnell“, brüllt er.

Udo Röbel verteidigt seinen Platz. Er hat die Geiselnehmer als erster entdeckt, er will auch jetzt dicht dran bleiben. Er steht direkt zwischen der Fahrertür und dem hinteren Fenster, wo Silke Bischoff sitzt. Röbel ist ein Vollblutjournalist. Von der Pieke hat er seinen Beruf gelernt, war Tageszeitungsredakteur bei der „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen, Polizeireporter bei „Bild“, Korrespondent der Deutschen Presse Agentur. Seit 1983 ist er nun beim „Express“, 1985 wurde er für seine couragierte Berichterstattung in der sogenannten Kießling-Affäre mit dem Wächterpreis der deutschen Tagespresse ausgezeichnet.

Als Rösner bemerkt, dass der Fluchtweg durch plötzlich hochgezogene Poller versperrt ist, ruft Röbel in die Menge, jemand solle sie runter machen. Er kann nirgendwo Polizisten erkennen. Aber irgendwo müssen sie sein. Tatsächlich, irgendwann sind die Poller wieder unten. Rösner will nur weg, er fragt den Journalisten nach dem schnellsten Weg zurück zur Autobahn. Röbel überlegt, er ist aufgeregt, kann sich nicht konzentrieren. Er bietet an, den Weg zu zeigen. Dann steigt er ein. Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags. Ines Voitle traut ihren Augen nicht. Ein Reporter quetscht sich mit auf die Rückbank. Er will den Geiselnehmern den Weg zeigen. Doch während der Fahrt stellt er weiter Fragen. Sie bemerkt, dass Degowski neben ihr immer ärgerlicher wird.

Schüsse fallen. Scheiben splittern.

Udo Röbel spürt die angespannte Atmosphäre im Fluchtauto. Er sieht die übermüdeten Geiselnehmer, die verängstigten Frauen. Er betrachtet den Revolver in Degowskis Hand. Die Pistole auf dem Schoß von Rösner. Ihm kommt der Gedanke, nach der Waffe zu greifen. Und dann? Er ist Journalist, kein Scharfschütze. Er versucht, mit Fragen die Stimmung zu lockern. Und davon abzulenken, dass er den Weg vor Nervosität nicht findet. Doch Degowski herrscht ihn an: „Halt’s Maul, du Affe!“ Im Radio wird über die Flucht berichtet. Die Tankanzeige warnt: das Benzin ist fast aufgebraucht.

Sie fahren auf der Autobahn 3 in Richtung Frankfurt, verfolgt von Polizeiwagen und anderen Autos. Eineinhalb Stunden vergehen. Dann taucht die Raststätte Siegburg auf. Endlich, eine Tankstelle. Udo Röbel steigt aus. Als der BMW abfährt, spürt er die Anspannung von sich abfallen.

In Ines Voitle wächst die Hoffnung, dass das alles doch noch ein gutes Ende nehmen wird. Kurz nachdem sie den Reporter raus gelassen haben, flüstert Degowski ihr ins Ohr, Silke und sie dürften in der Nacht gehen. Doch plötzlich spürt sie einen gewaltigen Stoß, hört einen lauten Knall, quietschende Reifen. Jemand hat den Wagen gerammt. Schüsse fallen. Scheiben splittern. Degowski sackt neben ihr zusammen. Vielleicht ist er tot? Sie traut sich nicht zu gucken. Hat Angst, auch getroffen zu werden. Drückt ihren Kopf zwischen die Knie, versucht, sich zu schützen. Ist wie gelähmt. Rösner brüllt: „Scheißbullen!“ Sie spürt etwas an ihrem Rücken, „vielleicht ist es ein Stein“, denkt sie. Später wird sich herausstellen, dass ihr der Splitter einer Kugel im Fleisch steckt.

Sie hört ihre Freundin. Rösner hat Silkes Kopf nach vorne gezogen, zwischen die beiden Vordersitze. Er brüllt. Silke ruft: „Ines, spring, spring raus!“ Ein Schuss. Silke sagt nichts mehr. Ines Voitle hat eine Hand an der Tür, versucht sie zu öffnen, bekommt sie nicht auf. Schreie. Schüsse. Dann ist die Tür plötzlich offen. Ines springt, läuft los, ohne zu gucken. Sie spürt Gras unter ihren Füßen, ein Feld. Da, ein Graben. Sie lässt sich fallen.

Die Folgen für Politik und Medien

Am Donnerstag, 18. August 1988, 13.40 Uhr endete das Gladbecker Geiseldrama auf der Autobahn, Höhe Bad Honnef – 54 Stunden nachdem es in Gladbeck begonnen hatte. Silke Bischoff überlebte die Schießerei nicht. Die Geiseln Ines Voitle denkt oft an ihre Freundin Silke. Jahrelang litt sie an Depressionen, machte sich Vorwürfe. Tatiana de Giorgi, die Schwester des im Bus erschossenen 15-jährigen Emanuele, ist mit ihrer Familie nach Italien zurückgekehrt. Busfahrer Paul Mikolajczak leidet noch immer unter den Folgen der Geiselnahme.

In den Tagen danach musste sich die Polizei Versagen auf ganzer Linie vorwerfen lassen. Im Nachhinein wurden etliche Fehler bekannt. In der Konsequenz trat Bremens Innensenator zurück. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Schnoor räumte „handwerkliche Mängel“ der Polizei ein. Der Untersuchungsausschuss des Landtags sprach ihn von der Verantwortung am Ablauf des Einsatzes frei; die Opposition hatte seinen Rücktritt gefordert.

Auch das bis an Kumpanei reichende Medienspektakel trug dazu bei, dass die Polizei nicht Herr der Lage war. Journalisten missachteten Gesetze, lieferten sich Verfolgungsjagden mit dem gekaperten Bus, drängten Polizeiautos ab, blockierten Straßens. Reporter biederten sich den Geiselnehmern an, besorgten zum Beispiel Verpflegung. In der Kölner Fußgängerzone sollen sogar als Fernsehteam getarnte SEK-Leute von Reportern weggedrängt und so an ihrer Arbeit gehindert worden sein.

Degowski hat vor kurzem ein Gnadengesuch gestellt

Ein halbes Dutzend Strafanzeigen wurden gegen Journalisten gestellt, darunter eine gegen Udo Röbel (eingestellt). Röbel selbst begründet sein damaliges Verhalten mit „unglaublicher Storygeilheit“. DPA-Reporter Manfred Protze ist heute Sprecher des Deutschen Presserates. Der Deutsche Presserat stellte nach dem Geiseldrama fest: „Es hat Journalisten gegeben, die die Grenzen ihres gesellschaftlichen Auftrags überschritten haben.“ Die deutschen Medien verpflichteten sich in einer Art Ehrenkodex, künftig mehr Zurückhaltung bei der Berichterstattung zu üben. Interviews mit Verbrechern oder Geiseln soll es nicht mehr geben. „Eine Art ungewöhnliche Pressekonferenz mit extrem surrealen Zügen“, bezeichnete Moderator Frank Plasberg die Situation. „Ich würde aber nicht sagen, dass ich da als junger Reporter etwas falsch gemacht habe.“

Dieter Degowski wurde 1991 zu lebenslanger Haft wegen Mordes, Geiselnahme mit Todesfolge sowie versuchten Mordes und Widerstandes gegen die Staatsgewalt verurteilt. Er hat vor kurzem ein Gnadengesuch gestellt, über das der Gnadenausschuss des Landgerichts Essen entscheiden muss. Hans-Jürgen Rösner verurteilte das Gericht ebenfalls zu lebenslanger Haft wegen Geiselnahme mit Todesfolge sowie versuchten Mordes und Widerstandes gegen die Staatsgewalt, es wurde Sicherheitsverwahrung angeordnet. Die Kugel, durch die Silke Bischoff starb, stammte aus seiner Waffe. Marion Löblich wurde zu neun Jahren Freiheitsstrafe wegen erpresserischen Menschenraubs und Geiselnahme verurteilt, 1995 aus dem Gefängnis entlassen.