Die CDU hat 2010 wichtige Leute verloren. Der Kanzlerin hat das nicht geschadet – aber nun hängt alles mehr denn je an ihr. Das ist riskant.

Achtung, Überraschung! Ende 2011 wird Stefan Mappus Finanzminister sein, Wolfgang Schäuble EU-Kommissar. Horst Seehofer ist Mitarbeiter einer Politikberatung und als Ministerpräsident in Bayern durch Christine Haderthauer ersetzt, Karl-Theodor zu Guttenberg hat als CSU-Chef und Außenminister genug zu tun. Volker Kauder übt sich in Landesverteidigung. Der Bundespräsident hält vor den Auslands-Tibetern Vorträge zur herausragenden Rolle des Buddhismus in Deutschland. Die Kanzlerin heißt Angela Merkel. In der Forsa-Umfrage vom 21. Dezember 2011 erreicht die Union 35 Prozent.

Absurd? Ein kleiner Rückblick: Anfang 2010 amtierte Bundespräsident Horst Köhler und sagte, man führe Krieg in Afghanistan, weil es der Wirtschaft nutze. Einer, der bald Vorstand eines Baukonzerns wird, war Ministerpräsident in Hessen, Roland Koch. Er war ziemlich unbeliebt, auch in seiner Partei. In Hamburg regierte dagegen ein ziemlich beliebter Ole von Beust eine schwarz-grüne Koalition, die überzeugt war, dass Schüler länger gemeinsam lernen sollen. Der Familiensitz derer zu Guttenberg war noch ein quasi öffentliches Grundstück, und in der „Bild“-Zeitung ließ sich Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff fragen, ob er sich das Amt des Staatsoberhauptes vorstellen könnte – eines fernen Tages. In der Forsa-Umfrage vom 6. Januar kam die Union auf 35 Prozent.

Und heute? Heute ist alles anders. Bis auf die Umfragewerte. 35 Prozent erreichten CDU und CSU kurz vor Weihnachten. Der Wähler ist eben auch für eine Überraschung gut.

Übers Jahr haben sich Merkels alt gewordene Kronprinzen samt und sonders aufgegeben oder wurden aus der Bahn geschubst. Die CDU erlebte einen Generationenschock; die Berichterstattung über die Kanzlerinnenpartei kreiste nicht mehr um Themen, sondern nur noch um das, was man Personality nennt. Das galt mindestens bis zum Sommer als die eigentliche Politik. Weil die Lust an Personality fast alles überlagerte, erschien es vielen plausibel, dass der personelle Strudel auch Merkel mit in die Tiefe reißen könnte. Aber warum sollte der Abgang ihrer Konkurrenz ihr eigentlich schaden?

In der Bevölkerung war die Kanzlerin freilich schon beliebter – als Parteichefin aber beschließt Merkel dieses turbulente Jahr allerdings stärker, als sie es begann. Als Vorsitzende ist sie vor sieben Landtagswahlen unangefochten. Um daran etwas zu ändern, bräuchte es 2011 schon ganz besondere Überraschungen. Aber wer möchte die nach 2010 ausschließen?

Als Horst Köhler am 31.Mai vom Amt des Bundespräsidenten zurücktrat, wurde sein Abgang Merkel angelastet. Sie hätte ihn pfleglicher behandeln müssen, hieß es. In der Woche wilder Spekulationen beschädigten Teile der Koalition wichtige Politiker der CDU. Vor allem Ursula von der Leyen wurde brüskiert in einem Spiel, dessen Fäden lange eher CSU-Chef Horst Seehofer als Merkel in der Hand hielt. Christian Wulff schließlich war ihre Wahl; er wollte das Amt – und einer der Kronprinzen war weggelobt.

Das Friedrich-Merz-Phänomen wiederholte sich

Dass die Wahl Wulffs eine Zitterwahl in drei Durchgängen war, ist beinahe vergessen. Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte damals die Bundesversammlung ausdrücklich zu diesem Ereignis beglückwünscht. Die Wahl hat Wulff nicht beschädigt, Merkel ebenfalls nicht. Zu stark ist die Persönlichkeit des Kandidaten Joachim Gauck, als dass die Unionsstimmen für ihn nur als Misstrauensvotum für Merkel verstanden werden konnten. Die Stärke Gaucks hat die Reputation Wulffs und Merkels gerettet.

Die Ankündigung Roland Kochs, auch er ein Kronprinz, die Politik zum Jahresende verlassen zu wollen, schadete Merkel genauso wenig. Das war nicht abzusehen. Ausgerechnet er, der wie kaum ein anderer polarisiert hatte, dessen Wahlkämpfe, ob nun Ausländer oder Jugendliche im Mittelpunkt standen, die CDU fürchtete, wurde auf einmal Projektionsfläche für gefühlte inhaltliche Defizite der Partei.

Das Friedrich-Merz-Phänomen wiederholte sich. Mit Merz’ Verschwinden hatte sich die Partei ordnungspolitisch verwaist gefühlt. Mit Koch glaubte sie, den letzten aufrechten Konservativen zu verlieren. Beider Glorifizierung zeigt, wie wenig selbstbewusst die CDU trotz jahrelanger Regierungsverantwortung ist. Merz vertrieben zu haben, das konnte Merkel vorgeworfen werden, bei Koch funktionierte es nicht. Koch hatte ersichtlich keine Lust mehr und war doch souverän genug, beim Gehen nicht noch auszuteilen.

Solange Koch zu Merkels Stellvertretern zählte – bis zum Parteitag im November – begleitete die Konservatismusdebatte die Union. Vor allem die Schwesterpartei CSU forderte mehr Profil. Merkel interessieren solche abstrakten Debatten kaum. Die Diskussion waberte ohne ein klares Wort der Vorsitzenden. Die Auseinandersetzung über die Präimplantationsdiagnostik (PID) war ein Geschenk. Anhand dieser klassischen ethischen Frage bekam wieder Konturen, was diese CDU als konservativ erachtet.

Deshalb wollte Merkel die Debatte unbedingt führen. Als sie auf dem Karlsruher Parteitag ins Nachtprogramm abzurutschen drohte, verordnete sie die Verlegung auf den nächsten Tag. Das hohe Niveau der Beiträge machte die Delegierten stolz, allein das Darüber-Reden besänftigte die schmollenden Konservativen. Das knappe Ergebnis der Abstimmung – eine Mehrheit für ein Verbot – war für die innere Verfasstheit der CDU fast unerheblich.

Gröhe ist ein Maß an Loyalität

Die Rede der Vorsitzenden, in der viel von Gott und Christentum zu hören war und in der die Grünen als neuer Hauptgegner benannt wurden, hatte zuvor das Ihre getan. Merkel erreichte ein Ergebnis von 90,4 Prozent. Es war das Zweitschlechteste ihrer zehnjährigen Amtszeit als Vorsitzende. Aber wer hätte es nach diesem Frühjahr und Sommer für möglich gehalten? Die Niederlage in Nordrhein-Westfalen im Mai, mit der der dritte Kronprinz Jürgen Rüttgers von der Bildfläche verschwand? Geschichte. Der überstürzte Rücktritt des vierten Kronprinzen Ole von Beust nach dem Hamburger Schulentscheid? Seine Sache.

Dass in der zweiten Jahreshälfte wieder Themen wie die PID, die Revision von Hartz IV oder die Bundeswehrreform dominierender wurden, muss Merkel auch Generalsekretär Hermann Gröhe danken. Er erhielt auf dem Parteitag fast das gleiche Ergebnis wie sie. Das passte, Gröhe ist ein Maß an Loyalität. Seine 90,3 Prozent waren ein besserer Gradmesser für die Zufriedenheit mit dem Kurs der Partei als das Ergebnis Merkels. Hätten die Delegierten wirklich viel an der Vorsitzenden auszusetzen gehabt, hätte es Gröhe abbekommen. Die Basis honorierte, dass Gröhe sie ernst genommen hatte. Er ließ seine Vorsitzende in vielen Regionalkonferenzen erklären, warum es in Regierung und Partei nicht recht laufen wollte. Gröhes mediale Wirkung ist überschaubar, für die CDU wurde der Versöhner zu einer zentralen, weil ausgleichenden Gestalt.

Heute hat die Union viel weniger bekannte Köpfe als noch vor einem Jahr – und es werden noch weniger werden. Saarlands Ministerpräsident Peter Müller wird Ende 2011 seinen Stuhl räumen und wohl als Richter zum Bundesverfassungsgericht wechseln. Auch Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen möchte an einen Jüngeren übergeben. Ihre wahrscheinlichen Nachfolger Annegret Kramp-Karrenbauer (Saarland) und Christian von Boetticher sind bisher nur lokale Größen wie auch die anderen CDU-Politiker, die im kommenden Jahr Ministerpräsidenten werden wollen: Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) und Lorenz Caffier (Mecklenburg-Vorpommern).

Julia Klöckner, die in Rheinland-Pfalz antritt, machte bisher als Staatssekretärin vor allem Bundespolitik, richtig bekannt wurde sie damit nicht. Die Wahl in Hamburg mit Christoph Ahlhaus hat die CDU schon verloren gegeben, ebenso wie die in Berlin, wo sie noch gar keinen Spitzenkandidaten benannt hat. Kaum Chancen hat Rita Mohr-Lüllmann, die in Bremen gegen den beliebten SPD-Oberbürgermeister Jens Böhrnsen antritt. Ob Stefan Mappus in der CDU wirklich die große Zukunft hat, die ihm vor dem Drama um Stuttgart 21 viele bescheinigten, wird allein vom Wahlergebnis in Baden-Württemberg im März abhängen. Verliert er, müsste ihn Merkel schon nach Berlin holen, um kurzfristig seine politische Zukunft zu sichern.

Für die alten Stellvertreter Merkels, Koch, Rüttgers und Wulff kamen neue. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, Umweltminister Norbert Röttgen und der neue hessische Ministerpräsident Volker Bouffier sind jedoch weit davon entfernt, Merkel demnächst zu ersetzen. Bouffier hat nicht Kochs Gewicht, Norbert Röttgen muss sich irgendwann in Nordrhein-Westfalen, wo er seit Kurzem Vorsitzender ist, beweisen. Am ehesten reicht Ursula von der Leyen an Merkel heran, mindestens, was den Ehrgeiz anbelangt. Einer, dessen Wort in der CDU immer mehr Bedeutung gewinnt, ist Innenminister Thomas de Maizière. Sollte im nächsten Jahr Überraschendes passieren, ist mit ihm zu rechnen.

Angela Merkel muss, ohne viel dafür getan zu haben, keine Konkurrenz mehr fürchten. Darin liegt eine Gefahr. Fällt sie, fällt das Ganze. Ein hochkarätiger Unionspolitiker beschreibt die Lage so: Sollten 2011 tatsächlich Baden-Württemberg und andere Länder für die CDU verloren gehen, so wird am Jahresende wohl kaum ein neuer Vorsitzender die Partei und noch weniger ein neuer Unionskanzler – etwa Guttenberg – die Regierung führen. Dann gebe es nur eine Richtung: mit Merkel in die Opposition für sehr lange Zeit. Überraschung!