Sollen die Parzellen in Berlin geschützt oder Laubenkolonien in Bauland umgewandelt werden? Zwei Köpfe, zwei Meinungen.
In der Stadt gibt es 70.000 Parzellen. Ein Teil davon soll mittelfristig bebaut werden. Das sorgt in den Anlagen für große Unruhe. Kleingärten erhalten oder lieber die Flächen bebauen? Ein Pro und Contra von Alexander Dinger und Julius Betschka.
Rettet die Parzellen!
So spielt man einfache Leute gegeneinander aus! Statt vorhandene Flächen zu erschließen, Industriebrachen zu bebauen und ernsthaft über eine engere Zusammenarbeit mit Brandenburg zu diskutieren, will man jetzt für den Wohnungsbau an die Kleingärtner ran. Millionenschwere Immobilienkonzerne reiben sich die Hände – und finden willige Unterstützer bei Mietaktivisten. Doch eine Bebauung von Kleingärten wäre nicht nur ein städtebaulich schwerer Fehler, sondern auch eine politische Dummheit.
Wer sich mit Kleingärtnern anlegt, muss wissen, mit welchem Schwergewicht er hier in den Ring steigt. In Berlin gibt es 70.000 Laubenpieper. Jeder davon hat Partner, Familie und Freunde. Konservativ geschätzt sitzen auf jeder Scholle also vier Personen. Mal mehr, mal weniger. Das macht in der Summe schon einmal mehr als eine Viertelmillion Menschen, die von dem Thema direkt oder indirekt betroffen wären. Es gibt in Berlin keinen anderen Bereich, der so viele Betroffene hat und der so viele Menschen mobilisieren könnte. Wer es sich in blindem Aktionismus mit Kleingärtnern verscherzt, wird das merken. Spätestens bei der nächsten Wahl.

Die stereotype Kritik an den Kleingärtnern – spießbürgerlich, engstirnig, deutsch – ist längst überholt und immer öfter schlichtweg falsch. Laubenpieper werden nämlich immer jünger und bunter. Um es klar zu sagen: Eine Anlage in Neukölln, auf der 13 Nationen miteinander gärtnern und in der es Gemeinschaftsbete für Schulen, Menschen mit Behinderung und aus dem Umfeld des betreuten Wohnens gibt, trägt mehr zur Diversität einer Stadt bei als die Kosmopoliten in ihren schicken Altbauwohnungen, die gern über Klima, Werte und Ökologie reden, aber zwischen Inlandsflügen und Avocado-Aufstrich selbst ein Leben mit einer fragwürdigen Klimabilanz führen. Ok, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben.
Wer auf die Parzellen geht, trifft auf Kleingärtner, etwa in Marzahn-Hellersdorf, die sehr wohl erkannt haben, dass sie sich ändern müssen, wenn sie bestehen wollen. Am Kienberg steht sie, die Anlage der Zukunft. Dort gibt es einen Spielplatz, Schautafeln, Insektenhotels, Gemeinschaftsgärten, Tierhaltung. Die Anlage steht für alle offen. Auch hier gibt es Gartenzwerge und sauber getrimmte Hecken – aber auch Öko-Schollen, auf denen Hühner herumlaufen. Kinder sehen hier zum ersten Mal, wo die Dinge wachsen, die es im Supermarkt zu kaufen gibt.
Das führt direkt zum letzten und alles entscheidenden Punkt. Gärten machen Städte lebenswert und tragen sehr viel zu einem gesunden Stadtklima bei. Das sollte gerade ein rot-rot-grüner Senat erkennen. Häufig kommt dann das Argument, dass Kleingärtner ihre Scholle auch am Stadtrand bewirtschaften können. Aber sollte man nicht das Grün in der Innenstadt retten und lieber neue Wohnungen auf Arealen am Rand der Stadt entstehen lassen? Dort kann man großflächig planen. Dort können neue Stadtviertel entstehen – mit Schulen, Kitas und einer guten Schienenanbindung in die Innenstadt. Das ist auch für die Wohnungssuchenden besser. Denn Wohnraum in der Innenstadt ist immer deutlich teurer als etwas weiter draußen. Und was Berlin braucht, sind günstige Wohnungen. Richtig ist aber auch, dass Kleingärten großstädtischer, urbaner und offener werden müssen, wenn sie in einer Millionenmetropole Bestand haben wollen. Anlagen, die das erkannt haben, sind unbezahlbar und viel mehr wert als jedes Betongold. Denn es sind die Berliner selbst, die diese Stadt am Ende lebenswert machen. Alexander Dinger
Bebaut die Kleingärten!
Berlin muss dringend seine Kleingärten bebauen – nicht alle, aber viele. Nach Berechnungen von Immobilienexperten könnten so bis zu 400.000 Wohnungen entstehen. Das wäre erstens politisch geboten, um den immensen Druck vom Wohnungsmarkt zu nehmen. Zweitens wäre es weitsichtig - gerade aus Sicht der Kleingärtner: Denn nur so kann langfristig wenigstens ein Teil der Laubenkolonien gerettet werden.
Was paradox klingt, folgt einer simplen Logik: Noch gibt es den politischen Handlungsspielraum, noch kann mit kühlem Kopf verhandelt werden, wie viele der über 70.000 Berliner Parzellen dem Wohnungsbau letztlich weichen müssen. Schon bald wird das anders aussehen: Viele Berliner wohnen schon jetzt in Angst. Können wir uns unsere Wohnung in fünf Jahren noch leisten? Wo werden unsere Kinder leben? Sie sorgen sich wegen der rasant steigenden Mieten- und Grundstückpreise.

In den vergangenen zehn Jahren sind die Durchschnittsmieten um etwa 100 Prozent gestiegen, die Preise für Bauland haben sich ebenfalls verdoppelt. Es sieht nicht danach aus, als würde sich diese Entwicklung verlangsamen. Schon heute denkt eine Mehrheit der Berliner deshalb, dass die Parzellen ganz oder teilweise mit Wohnungen bebaut werden sollen. Die einen dösen mittags im Liegestuhl, die anderen haben nicht einmal nachts einen sicheren Platz zum Schlafen? Gerecht ist das nicht. Erhitzt sich der Wohnungsmarkt weiter, werden die Kleingärten zurückgedrängt werden.
Deshalb braucht es jetzt ein langfristiges Kleingarten-Konzept des Senats. Es müsste eine weitreichende Bebauung von Kleingartenkolonien vorsehen und eine ähnlich hohe Zahl langfristig bewahren. Eine progressive Stadtentwicklungspolitik allein mit Nachverdichtungen und dem Ankauf von Wohnungen nicht mehr möglich. Sie wird verpuffen. Die Politik muss endlich groß denken und ausgerechnet in den Kleingärten schlummert dafür Potenzial.
Auf satten 3000 Hektar Land pflegen Berlins Laubenpieper heute Buchsbaumhecken und Tomatenstauden. Für Sportfans: das entspricht etwa 2100 Fußballfeldern. Niemand kann wollen, dass diese Fläche komplett zubetoniert wird. Jeder weiß, dass bolzen auf dem Rasen mehr Spaß macht, als sich beim Kicken auf Beton blutigen Knie zu holen. So ist das auch in der Stadt: Berlin braucht sein Grün, braucht seine Gärten - fürs Wohlbefinden. Der Immobilienexperte Christian Gerome hat ausgerechnet, dass es reichen würde zehn Prozent der Parzellen zu bebauen damit 45.000 Wohnungen entstehen. Eine konservative Rechnung. Denn der Senat sollte mutig sein: Warum nicht die Hälfte bebauen und so über 200.000 Wohnungen schaffen? Gemeinsam mit Brandenburg könnten Ersatzgrundstücke für die Kleingärtner in der Mark gesucht werden. Der Projektentwickler Arne Piepgras fordert sogar, alle Laubenkolonien in Wohnraum umzuwandeln, die sich in Landesbesitz befinden: also zwei Drittel. Laut seinen Berechnungen entstünden so bis zu 400.000 Wohnungen – eine Großstadt auf Laubenland.
Beide Vorschläge zeigen, wohin die Debatte geht: Berlin kann sich seine Kleingärten nicht mehr leisten. Deshalb sollte der Senat ein kluges Zukunftskonzept erarbeiten. Dazu muss sich die Landespolitik mit den 70.000 Kleingärtnern anlegen. Das mag unangenehm sein, ist politisch aber geboten. Den 70.000 sei gesagt: Kaffee, Kuchen und Klönen in der eigenen Parzelle gehören zu Berlin. Allerdings müssen in einer Stadt, die gerade erwachsen wird, alle ein Stückchen Freiheit aufgeben, damit die Stadt für alle lebenswert bleibt. Klappt das nicht, stoppen die Konflikte auch nicht vor zwei Meter hohen Buchsbaumhecken. Julius Betschka