Konzert

Hilary Hahn ist und bleibt ein Phänomen

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Felix Stephan

Foto: Isabel Schiffler / picture alliance / Jazzarchiv

Chefdirigent Tugan Sokiev hat in Berlin gehörig an Fahrt gewonnen. Spektakulär setzt er jüngst die Berliner Philharmoniker unter Strom. Auch Stargeigerin Hilary Hahn weiß zu überzeugen.

Wie schnell sich die Dinge ändern können: Noch vor einem Jahr weilte Tugan Sokiev eher unscheinbar in der Berliner Konzertlandschaft, seine Ernennung zum Chefdirigenten des Deutschen Symphonie-Orchesters (DSO) glich einem Vertrauensvorschuss. Doch nun hat der junge Russe gehörig an Fahrt gewonnen. Seit ein paar Monaten macht sich sein wachsendes Talent mit Nachdruck bemerkbar. Sokievs Aufführung von Mahlers zweiter Sinfonie mit dem DSO im Januar geriet zur Saison-Sensation. Seine überraschende Berufung als Musikdirektor ans Moskauer Bolschoi-Theater scheint zusätzliche Energien in ihm freigesetzt zu haben. Denn anders lässt sich kaum erklären, wie sehr er die Berliner Philharmoniker an diesem Abend unter Strom zu setzen vermag.

Kerzengerade ragen die Musiker auf der Stuhlkante, sie brodeln schier vor Ausdruckswillen. Sokiev bündelt Tschaikowskys „Manfred“-Sinfonie op. 58 so dicht und klar, dass kein Widerspruch möglich ist. Er setzt auf schneidige Kompaktheit, erzeugt erregende Gänsehaut-Klänge. Kühl gleißen die Streicher in der Höhe, leidenschaftlich dunkel peitschen sie durch die Mittellage. Die vier Hornisten drehen stolz ihre Schalltrichter zur Decke. In den Tutti-Teilen übernehmen sie das Blechkommando. Dezent duftet die Oboen-Idylle zu Beginn des langsamen Satzes, im finalen Hexensabbat prasselt martialisches Dauerfeuer. Manfred, der von Schuld und Schicksal zerfressene Held, wird direkt in die Hölle geschleudert.

Die Wiederauferstehung gelingt spektakulär

Eine spektakuläre Wiederauferstehung dagegen feiert das d-Moll-Violinkonzert des Belgiers Henri Vieuxtemps. Seit 1927 hatten es die Philharmoniker nicht mehr angerührt. Für die Stargeigerin Hilary Hahn graben sie es aus den Archiven. Die Freude darüber steht der 34-jährigen Amerikanerin ins Gesicht geschrieben – sie liebt es, vernachlässigte Virtuosenkonzerte der Vergangenheit zu beleben. Es macht einen wichtigen Teil ihrer Karriere aus. Mit gewohnt übernatürlicher Perfektion durchdringt sie ihren Part. Selbst die teuflischsten Tripelgriffe sprüht sie mühelos in den Saal.

Hilary Hahn ist und bleibt ein Phänomen. Die Frau an den Saiten pflegt ein Spiel wie von einem fernen Planeten. Die Philharmoniker staunen – und folgen ihr hochengagiert. Unter Sokiev zeigen sie luxuriöse sinfonische Pracht, sie werten Henri Vieuxtemps’ Orchestration deutlich auf. Erstaunlich, wie gut dieses spätromantische Violinkonzert zu Tschaikowskis „Manfred“ passt. Beide Werke sind in Russland entstanden, beide von Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ inspiriert.

Und auch dem Violinkonzert wohnt ein Held inne, der in vier Charakterbildern beleuchtet wird – allerdings einer, den Hilary Hahn mit ziemlich kerngesunder Physis ausstattet. Begeisterte Pfiffe hinterher für Solistin und Dirigent. Ein rundum gelungener Abend mit Sokiev in glänzender Verfassung. Für das DSO stellt sich allerdings eine bange Frage: Wie lange kann es diesen Dirigenten noch auf dem Chefposten halten? Diesen Dirigenten, der für die Konkurrenz von Monat zu Monat immer begehrenswerter wird? Selbst die Philharmoniker könnten nach diesem Abend ins Grübeln geraten. Sie sind noch auf der Suche nach einem geeigneten Rattle-Nachfolger.