Die Standardinszenierung an der Schaubühne dauert zwei Stunden. Ohne Pause. Jetzt aber ist Festivalzeit, da gehen die Uhren anders: In viereinhalb Stunden erzählt Regisseur Àlex Rigola den über 1000-seitigen Jahrhundertroman „2666“ von Roberto Bolaño nach, nebenan im Studio veranstaltet Thomas Bo Nilsson die zehntägige Nonstop-Performance „MEAT“, die das Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) rahmt. Wir haben uns beide Auftaktpremieren angeschaut. Gewalt ist die Klammer.
Roman-Dramatisierungen sind beliebt. Kaum ein großes Werk, das nicht in eine mehr oder weniger dramatische Bühnenform gepresst wird. Die Resultate sind sehr unterschiedlich. Vom „Zauberberg“, der vor einer Weile am Gorki-Theater herauskam, ist rieselnder Kunstschnee in Erinnerung geblieben. Von Luk Percevals Fallada-Dramatisierung „Jeder stirbt für sich allein“ und Armin Petras „Gertrud“ haben sich die Szenen hingegen eingebrannt. Was bleibt von „2666“? Ein kurzweiliger Auftakt, ein gelungener Schlussteil und eine Lücke in der Mitte. Regisseur Àlex Rigola hangelt sich an den fünf Teilen des Romans entlang, die ebenso lose wie kunstvoll miteinander verbunden sind. Die Schauspieler übernehmen mehrere Rollen, Dialoge und Nacherzähltes wechseln sich ab.
Tote Frauen
Zu Beginn, in einer erotisch grundierten, unterhaltsam-witzigen Wissenschaftsbetriebssatire, begeben sich Germanisten aus vier europäischen Ländern (drei Männer und eine Frau, die Verbindung beschränkt sich nicht auf den Austausch von Lektüreerfahrungen) auf die Suche nach dem untergetauchten deutschen Schriftsteller Benno von Archimboldi, den sie verehren. Sie reisen nach Mexiko und lernen dort einen Philosophieprofessor (Urs Jucker) kennen, der fürchtet, verrückt zu werden. Dessen Tochter (Eva Meckbach) treibt sich mit skurrilen Typen herum, Alkohol und andere Drogen befeuern Gewaltfantasien und Orgien.
Dort in Santa Teresa werden Frauen umgebracht – Bolaño ließ sich von der realen Mordserie in der mexikanischen Grenzstadt Juaréz anregen –, die Polizei reagiert gelangweilt auf die Leichen, die ständig in der Wüste gefunden werden. Der letzte Teil erzählt – Jule Böwe sitzt dabei wie eine Märchentante im Bauhaus-Sessel – die Lebensgeschichte des Schriftstellers (Sebastian Schwarz), der als Hans Reiter 1920 geboren wird, im 2. Weltkrieg als Soldat im Osten das Kriegsgrauen erlebt, nach Berlin zurückkehrt, sich später nach Italien und Griechenland zurückzieht und dann auf die Reise nach Mexiko macht.
Der Ermittler knabbert Nüsschen
Im zentralen Mittelteil, in dem es um die ungeheuerlichen Verbrechen geht, schwächelt die Inszenierung. Regisseur Àlex Rigola trifft hier überhaupt nicht den Ton der Buchvorlage, dort werden die über 300 teilweise übel zugerichteten Frauenleichen im Stil einer Litanei beschrieben. Schwer erträglich ist das beim Lesen. Auf der von Max Glaenzel gestalteten Bühne berührt diese Szene gar nicht, sie ertrinkt im Plakativen. Ingo Hülsmann gibt den genervten Chef der Einsatztruppe, Robert Beyer den nüsschennaschenden Kollegen im Hintergrund, Christoph Gawenda die coole Sau, Franz Hartwig den einzigen nicht desillusionierten Ermittler und Regine Zimmermann die dekorative Frauenleiche in ebenso dekorativer Wüstenlandschaft. Auf die Rückwand werden die Namen der (realen) Opfer projiziert, zu einer Kakofonie tragen die Schauspieler und weiteres Personal große und kleine Kreuze auf die Bühne, die schließlich damit übersät ist.
Dann geht es in die zweite Pause, die einige Zuschauer dazu benutzen, nebenan im Studio vorbeizuschauen.
In diesem trüben Aquariumwasser würde kein Fisch überleben. Überhaupt ist irgendwas faul an diesem China-Imbiss „Zum Goldenen Drachen“, aber was? Vielleicht das merkwürdig porzellanpuppenhafte Manga-Paar, das einander stumm füttert. Oder der Koch, der gerade wenig zu tun hat? Man müsste ihn fragen, wie man überhaupt ziemlich aktiv sein muss, wenn man etwas erfahren will in „MEAT“, der 240-Stunden-Performance: Überall in dieser Parallelwelt wird man umworben und beflirtet, hineingesogen und angemacht, aber immer dann, wenn es interessant zu werden beginnt, soll man blechen. Was ja im richtigen Leben auch nicht anders ist.
Thomas Bo Nilsson, lange Zeit Koleiter und Bühnenbildner des Künstlerkollektivs SIGNA, hat im Schaubühnen-Studio geschickt ein Labyrinth aus Miniatur-Konsumhölle und nippesparadiesischen Privaträumen gebaut. Durch einen Späti voll mit Süßigkeiten und Hello-Kitty-Fanartikeln gelangt man in die Shoppingmall mit Imbiss, Dessous-Shop und Nagelstudio, Eckkneipe, Hotel und Nachtklub. Dahinter öffnen sich übergangslos Zimmer von ausgesuchter Geschmacklosigkeit und Verwahrlosung: Poster und Bravo-Schnipsel von Britney, Justin und Madonna verdecken die ausgeblichenen Kinderzimmertapeten, in einer Ecke daddelt ein bleicher Typ Computerspiele, in einer anderen filmen sich Leute dabei, wie sie wortlos die rechten Arme strecken und finden das unglaublich witzig; eine Transe sitzt mit einem Dildo vor ihrer Webcam und aktualisiert ihr Profil auf Chaturbate.
Geruch nach China-Food
Eine Welt, in der sich der Geruch nach China-Food, beißenden Nagelstudio-Chemikalien und billigen Parfüms mischt und in ihrer Detailfreude sogar noch den „Club Inferno“ der Volksbühne übertrifft, bei der Nilssons Handschrift ebenfalls deutlich wurde.
Katzen(babys) und Spiegel sind Leitmotive dieses fleischgewordenen Vorabend-Trash-Pornos. „MEAT“ kreist um die Lebenswelten von Eric Clinton Newman alias Luka Rocco Magnotta, jenes kanadischen Pornodarstellers und Escorts, mutmaßlichen Mörders und Kannibalen, der 2012 einen chinesischen Studenten zerstückelte, die Tat als Video ins Netz stellte und die Leichenteile an Politiker verschickte.
Wochen später wurde er in einem Neuköllner Internetcafé verhaftet. So eines, wie es sich zwischen Späti und Mall zwängt. Von Magnotta stammt übrigens auch das Zitat, das dieses Projekt begleitet: „If you don’t like the reflection. Don’t look in the mirror. I don’t care.“ Reflektiert wird man hier nämlich nicht nur von den Spiegeln, die überall hängen, sondern vor allem von den schrägen Charakteren, mit denen man sich oft angenehm planlos in Gespräche und Flirts verheddert – bis irgendwann die Ansage kommt, dass alles weitere nur gegen Geld zu haben ist.
Bedrohlich – jedenfalls an diesen ersten vier der insgesamt 240 Stunden – fühlt sich hier nichts an, aber natürlich weiß man nicht, wer sich hinter all den Identitäten verbirgt, hinter dem schnurrenden Typen mit der Katzenmaske und dem großen Teddybären, hinter Rita Bauer, der matronenhaften Sängerin, die von ihren einstigen Erfolgen in Regensburg faselt und einen Drink ausgegeben haben will. Oder hinter Miami, der Gogo-Tänzerin, die sich eine Weile halbherzig um einen bemüht und die sich erfolgreich einen Sekt erschnorrt.
Wenn man sich mal zu sehr in der Fiktion verheddert, hilft die nächste Zahlungsaufforderung.
Vorstellungen: Bis zum 13. April 2014 läuft das 14. Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) an der Schaubühne am Lehniner Platz. Während die Auftaktinszenierung „2666“ ins Repertoire übernommen wird, sind andere Produktionen wie die 240-Stunden-Performance „MEAT“ oder Gastspiele nur während des Festivals zu sehen. Am Sonnabend (5. April 2014) gibt es „33 RPM and a few Seconds“, ein Gastspiel aus dem Libanon, auf Arabisch mit deutschen Untertiteln. Und am Sonntag (6. April 2014) hat Biljana Srbljanovics „Dieses Grab ist mir zu klein“ Premiere, das Schaubühnen-Debüt der gefeierten Nachwuchs-Regisseurin Mina Salehpour. Karten gibt es an der Schaubühnenkasse unter (030) 890023 oder im Internet.