Manchmal ist es im Leben so, dass in den sentimentalsten Momenten die besten Ideen kommen. Ein bisschen war es so bei C/O. Man feierte die lange Nacht der Abschiedsparty im Postfuhramt, kurz vor dem Umzug der Fotogalerie ins Amerika Haus.
Felix Hoffmann, Kurator bei C/O, und einige Fotografen von Ostkreuz saßen beisammen, wahrscheinlich reichlich weinselig, und grübelten darüber, wie man den alten Westen, die Gegend rund um den Zoo, also die Nachbarschaft des Amerika Hauses erkunden könnte. Obwohl der Bezirk gerade einen Aufschwung erlebt, fremdelten sie mit der Gegend, stellten sie fest. Ihre urbane Einflugschneise liegt wohl eher in Mitte und noch weiter hinaus Richtung Osten. Denn Ostkreuz ist, wie der Name schon sagt, ein Ostgewächs.
Eröffnung am 19. September
Irgendwann zu später Stunde, erzählt Werner Mahler, wurde klar: „Wir wollen den Mythos Zoo, Untergang und Realität, Glanz und Klischee porträtieren, um vor Ort anzukommen“. So entstand das Fotoprojekt „Westwärts“, an dem immerhin 14 Kollegen von Ostkreuz teilnehmen. Eröffnet wird zur Berlin Art Week am 19. September.
Aber halt, nicht im Amerika Haus, das wird noch saniert. Draußen, auf sogenannten Schau-Stelen präsentiert, Open Air, also Tag und Nacht, können die Fotos angeschaut werden. Jeder Fotograf hat da seinen ganz eigenen Blick, der eine nimmt die Architektur in den Fokus, Maurice Weiss etwa schaute sich das jüdische Leben an und Jordis A. Schlösser die Neureichen von Charlottenburg, die ihre eigene High Society bilden.
Wir treffen Werner Mahler und Anne Schönharting, 43 Jahre, in Weißensee, denn ihre Arbeiten könnten kaum gegensätzlicher sein. Werner Mahler, 63, gehört zur Gründungstruppe von Ostkreuz. Seit eineinhalb Jahren hat die Bildagentur hier am Stadtrand ihr Domizil auf einem netten, überschaubaren Campus gefunden. Künstler, Restauratoren, die Leute von der Ostkreuz-Schule sowie der Agentur arbeiten hier in einer fröhlich wirkenden Kunst-Kooperative mit modernem Hinterhof-Blumen-Charme.
18 Fotografen und vier feste Mitarbeiter
Ostkreuz ist ein kleines, stolzes Imperium, vertreten sind 18 Fotografen und die Agentur zählt vier feste Mitarbeiter, die sich um die Bürokratie kümmern, Vermarktung und Digitalisierung. Gegründet wurde sie 1990, als „Magnum des Ostens“ von den „Kennern des Ostens“, wie man damals sagte, die Fotografen gehörten wie Werner Mahler oder die verstorbene Sibylle Bergemann zu den bedeutenden Fotografen des untergegangenen Staates.
Heute ist die Truppe längst international besetzt. „Sind nicht mehr aus dem Westen?“, fragt Mahler und steckt sich eine Lucky Strike an. Die Zählerei beginnt. „Ist Tobi nicht gebürtiger Ostler?“, fragt Anne Schönharting. „Und Heinz, kommt der nicht aus Erfurt? Oder Rostock?“ – „Ach“, sagt jetzt Mahler, „spielt doch alles keine Rolle mehr!“
Anne Schönharting erzählt, wie „pragmatisch“ sie vorgegangen ist bei „Westwärts“. Eigentlich hatte sie gar nicht so recht Zeit und nun begeistert sie das Projekt so sehr, dass sie aus ihrer Serie gar ein Buch machen möchte. Ihre Idee war simpel. Einfach Kreative, Künstler, Musiker, und alle, die sich irgendwie so fühlen, in ihren Charlottenburger Wohnungen zu besuchen nach dem Motto: „So wie du wohnst, so bist du“. Nach der „Vertrauensbildung“ setzte der Dominoeffekt ein. Die Fotografin wurde weitergereicht.
Einblicke in Peter Raues Wohnung
„Toll“, erzählt sie, „das war wie reisen in der eigenen Stadt.“ Es öffneten sich viele Wohnungstüren wie etwa die von Elvira Bach. Die bekannte Malerin zeigt sich als lebendes Gesamtkunstwerk, alles Schwarzweiß, und sie selbst hat sich in ihrem schwarzen Gewand samt Turban und güldenen Klunkern ganz ihrem Interieur anverwandelt – oder umgekehrt, wie man mag. Die Motive der Kissen jedenfalls stammen von ihren Bildern.
Auch in Peter Raues Wohnung erhielt sie Zutritt mit der Kamera, der „Anwalt der Künste“, sammelt ja leidenschaftlich, so verwundert es kaum, dass überall Bilder an der Wand hängen, in Petersburger Hängung, dicht an dicht. „Alles wirkt wie auf einem Joan Miró-Gemälde“, findet Anne Schönharting. Der rote Punkt an der Wand passe perfekt zum Sofa.
In der Wohnung von Frank Dingel und Karsten von Kuczkowski, beides Ausstatter, könnte man hingegen ein absurdes Theaterstück inszenieren, so wunderbar arrangiert wirkt alles, nicht nur das Schwein auf dem Tisch, sondern auch das blütenreine Dandy-Weiß der beiden Hausherren.
„Meeting Point“ rund um den Bahnhof Zoo
Allesamt großbürgerliche Wohnungen, wo man Rollschuh laufen könnte, so groß sind sie. Das wirkt bald so, als ob sich alle irgendwie kennen würden, die Ästhetik ist ähnlich, verschiedene Formen der Inszenierung gehören dazu und auf jeden Fall darf die Kunst nie fehlen. „Unfassbar, was die Fassaden so verbergen“, sagt sie. „Das ist alt und gewachsen, diese Substanz, die gab es nicht im Osten.“
So schön, so schwelgerisch, so farbig: Mit diesen Welten hat Werner Mahler so gar nichts im Sinn. Er hat sich an den Rand der Gesellschaft begeben und einfach nur beobachtet: all die Obdach- und Heimatlosen, die Verlorenen und Junkies, die ihren „Meeting Point“ rund um den Bahnhof Zoo und am Amerika Haus haben.
Der Garten, den es seit dem Sanierungsbeginn nicht mehr gibt, galt als Alkohol-Lager und einiges mehr. „Wie ein Paparazzi war ich, das habe ich noch nie gemacht“, sagt er und grinst. Werner schloss sich im Amerika Haus ein und fotografierte den Alltag über Tage und Abende hinweg. Einmal hat ihn jemand hinter der Scheibe entdeckt, das hätte gefährlich werden können. Er bekam mit, wer mit wem zusammenhing, wie viel man trank („15 Packs in einer Stunde niedergemacht“) und wie man sich gegenseitig beklaute.
Keine „edlen Schwarzweiß-Fotografien“
Gruppendynamik gibt’s wohl noch im ärmsten Mikrokosmos. „Ich wollt es rotzig und dreckig machen. Mir stand der Sinn nicht nach edlen Schwarzweiß-Fotografien mit klassischen Grauwerten.“
Er benutzt besonders lichtempfindliche Filme, daher das Grobkörnige, das die Verschwommenheit und ja, die Zeitlosigkeit der Aufnahmen bewirkt. Und das mit dem Paparazzi stimmt nicht, Mahler zeigt alle Personen nur in Rücken- oder Seitenansicht, jedenfalls sind sie nie erkennbar. „Ich wollte ihre Körpersprache zeigen.“
So sehen wir schemenhaft junge oder ältere Männer: gebückt, gebeugt, sitzend, hockend, liegend, kriechend. Der größte Feind ist wohl der Alkohol, dazu kommen noch andere Feinde, Einsamkeit, Armut und Hoffnungslosigkeit heißen sie. Charlottenburg hat eben viele Tag- und Nachtgesichter.
Amerika Haus, Hardenbergstr. 22-24. Bis 24. November.