Wie wird man Jude? Das Jüdische Museum in Berlin-Kreuzberg will leichtfüßig und humoristisch alle Fragen über die Religion beantworten. Und manche hätte man nie gewagt zu stellen.
„Ob es regnet, ob es hagelt,//ob es schneit oder ob es blitzt.//Ob es dämmert, ob es donnert,//Ob es friert oder ob du schwitzt,//Ob es schön ist, ob’s bewölkt ist,//Ob es taut oder ob es gießt,//Ob es nieselt, ob es rieselt,//Ob du hustest, ob du niest: An allem sind die Juden schuld!//Die Juden sind an allem schuld!//Wieso, warum sind sie dran schuld?//Kind, das verstehst du nicht, sie sind dran schuld!//Und sie mich auch! Sie sind dran schuld!//Die Juden sind, sie sind und sind dran schuld!//Und glaubst du’s nicht, sind sie dran schuld,//An allem, allem sind die Juden schuld!“
Der Komponist Friedrich Hollaender schrieb dieses Lied 1931 für das berühmte Knusperhaus der Kleinkunst, sein Tingel-Tangel-Theater an der Gedächtniskirche. Im Jahr zuvor hatten die Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen einen Erdrutschsieg davon getragen. Mutig antwortete Hollaender auf dieses Ergebnis und den zunehmenden Judenhass mit dem Chanson, dessen Melodie er der „Habanera“-Arie aus Georges Bizets „Carmen“ („Liebe von Zigeunern stammt“) entnahm.
Nicht jeder verstand seine kess-zähnefletschende Provokation. Der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ hielt Hollaenders Ohrwurm sogar für „widerlich“. Er bezeichnete ihn als ein „Schulbeispiel einer Verkennung und Verzerrung, wie sie die antisemitische Agitation nicht anders darstellen würde.“
Vorurteile sind wie Borkenkäfer nicht totzukriegen
82 Jahre später hat das Jüdische Museum zu Berlin Hollaenders Refrain „Die Juden sind an allem schuld“ nicht nur auf Plakate in der gesamten Stadt geklebt, die wie angeklebte Trompetenstöße, kurz und signalhaft, die Berliner verstören (sollen), sondern eben dieses Lied Friedrich Hollaenders in den geistigen Mittelpunkt seiner Ausstellung „Die ganze Wahrheit ... Was Sie schon immer über Juden wissen wollten“ gestellt.
Hollaender gleich, frech und flapsig, beantworten die Programmdirektorin des Jüdischen Museums, Cilly Kugelmann, und ihre drei Kuratorinnen Fragen. Keine beliebigen Fragen! Es sind Fragen, die Hunderttausende von Besuchern des Jüdischen Museum nach ihrem Rundgang durch die Dauerausstellung in Kisten und Kästen und im Internet hinterlassen und die die Kuratorinnen für die Sonderschau ausgewählt haben.
Boshaft könnte man an dieser Stelle einwerfen: Wer nach dem Gang durch die große Schau, die selbst dem unbedarften Gast zeigt, dass es nicht eine Judenheit, sondern viele jüdische Lebenswelten gibt, noch immer das Bedürfnis verspürt, sich zu erkundigen, ob „Juden besonders geschäftstüchtig sind“, dem wird die kleine Sonderausstellung auch nicht mehr helfen. Vorurteile sind halt wie Borkenkäfer. Sie sind nicht tot zu kriegen.
„Iss auf, oder ich bring mich um!“
Doch in dieser Düsterkeit dürfen Museumsmacher nicht denken; so haben sie diese Ausstellung entwickelt. Leichtfüßig und mit einem Sinn für Humor haben sie in sieben Räumen 32 Fragen ihrer Besucher wiedergegeben. Sie reichen von „Sind Juden auserwählt?“ über „Gibt es noch Juden in Deutschland?“ und „Was machen Juden an Weihnachten?“ bis zur alles entscheidenden, weltbewegenden Frage, ob sich ein Jude tätowieren lassen darf.
Merkwürdig ist, dass offenbar kein Besucher den Unterschied zwischen einer jüdischen und einer nichtjüdischen Mutter erfahren wollte. Der Autor dieser Zeilen kennt die Antwort: Eine nichtjüdische Mutter erklärt ihrem Kind: „Iss auf, oder ich bring’ dich um!“ Eine jüdische sagt: „Iss auf, oder ich bring mich um!“
Auch diese Frage und ihre Antwort hätten in die Ausstellung gepasst, weil keine einzige der aufgeworfenen Themen trocken und ernst behandelt werden. Mehr sogar: Nicht selten schimmert in der Erwiderung ein gleichsam fröhliches Augenzwinkern mit.
Wie wird man eigentlich Jude?
Wie man Jude wird, verraten etwa Fotos von Sammy Davis Jr., der nach einem Autounfall zum Judentum übertrat und bis zu seinem Tod gläubig blieb. Die Ausstellung zeigt als Leihgabe seinen siebenarmigen Leuchter, seine Menora. Auch Marilyn Monroe ist zu sehen, die der Liebe zu Arthur Miller wegen in das rituelle Tauchbad (Mikwe) stieg.
Mit Hilfe zahlreicher, an die Wände gedruckter Zitate kommen auch jüdische Gelehrte zu Wort. Sie erklären, wie die Schritte des Übertritts gegangen werden müssen. Dann aber wird wieder alles durch Ben Gurion beiseite gewischt: „Für mich gilt jeder als Jude, der meschugge genug ist, sich selbst einen zu nennen.“
Die Botschaft der Ausstellung wird bald klar: Judentum ist das Jahrtausende alte dialogische Prinzip, das scheinbar ewige Gespräch zwischen dem Ich und dem Du, das Abwägen von Gründen und Gegengründen, das Verkünden von Leitsätzen, die Widerspruch aushalten, weil es auf Erden keine absoluten Wahrheiten gibt, folglich kein Mensch garantiert Recht haben kann.
Nur Gott wird nicht angetastet
Nur Gott wird nicht angetastet – in der Regel jedenfalls! Judentum – das ist nicht ein Monolog, sondern das Konzert jahrtausendealter Stimmen von Persönlichkeiten, die nicht nach dem Jenseits schielen, sondern im Diesseits gute Menschen sein wollen (auch wenn sie es nicht immer schaffen).
Diese Vielfalt jüdischen Lebens enthüllt sich dem Besucher nach kurzer Zeit. Riesige Porträts hängen von den Decken, die den allgemeinen Eindruck des Vagen unterstreichen. Er verstärkt sich auch durch den Video-Raum, in dem sieben Rabbiner unterschiedlicher Richtung auf dieselben Fragen unterschiedlich antworten – und sich doch alle auf dieselben Texte der Bibel und des Talmuds beziehen.
Ein waschechter Jude zum Anschauen und Fragen
Ein wenig seltsam wirkt nur ein Glaskasten im letzten Saal, in dem ein waschechter Jude sitzt, der angeschaut und befragt werden kann. Die Ausstellungsmacher spielen mit der Verkrampfung, die nichtjüdische Deutsche noch immer haben, wenn sie über oder mit Juden sprechen.
Ob diese Zurschaustellung hätte sein müssen, mag jeder einzelne Besucher selbst entscheiden. Sie passt zu einem Hang, der den Ausstellungsmachern unter Cilly Kugelmann generell eigen ist. Man könnte ihn als Remmidemmi-Didaktik bezeichnen. Vielleicht hätte sie Friedrich Hollaender gefallen.
Jüdisches Museum, Lindenstraße 9-14, Kreuzberg. Bis 1. September 2013. Montag von 10 bis 22 Uhr, Dienstag bis Sonntag von 10 bis 20 Uhr