Berlin. Nurkan Erpulats Inszenierung „Dschinns“ ist mit dem Friedrich-Luft-Preis geehrt worden. Wir dokumentieren die Laudatio.
Der Friedrich-Luft-Preis für die beste Theaterinszenierung der Spielzeit 2022/23 ist am Sonntag an Nurkan Erpulats Adaption des Romans „Dschinns“ von Fatma Aydemir am Maxim Gorki Theater verliehen worden. Der Preis, benannt nach dem Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft, wird seit 1992 verliehen, seit 2021 gemeinsam von Deutschlandfunk Kultur und der Berliner Morgenpost. Er würdigt die beste Berliner oder Potsdamer Theateraufführung, die von einer neunköpfigen Jury bestimmt wird und ist mit 7500 Euro dotiert. Zur Jury gehören Susanne Burkhardt (Deutschlandfunk Kultur), Hans-Dieter Heimendahl (Deutschlandfunk Kultur), Felix Müller (Berliner Morgenpost), die freien Theaterkritikerinnen Elena Philipp (nachtkritik.de) und Katrin Pauly, die Schauspielerinnen Claudia Wiedemer und Martina Gedeck sowie Ernst Elitz, Gründungsintendant von Deutschlandradio. Wir dokumentieren die Laudatio von Elena Philipp.
Mit Nurkan Erpulat hat etwas begonnen, das zahllose Theaterbiografien prägt und das deutsche Theater nachhaltig verändert hat. Als Postmigrantisches Theater ist dieses Projekt weit über die Darstellende Kunst hinaus bekannt: Die Frage, wer auf den Bühnen repräsentiert ist, wessen Geschichten erzählt werden und wer die Hauptrollen spielt, ist Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen und Missverhältnisse, die sich erst langsam wandeln.
Dass sie sich wandeln, dass marginalisierte Perspektiven zunehmend ins Zentrum gesellschaftlicher Wahrnehmung rücken, ist ein Verdienst der Communities und ihres Aktivismus. Und von Künstlerinnen und Künstlern wie Nurkan Erpulat, der das Postmigrantische Theater mit begründet hat. Um es dann hier am Gorki als Hausregisseur zur Blüte zu führen, mit einer Inszenierung wie „Dschinns“, die wir als Jury des Friedrich-Luft-Preises als die bemerkenswerteste der Spielzeit 2022/23 auszeichnen.
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Nurkan Erpulat hat es schon immer verstanden, E und U zusammenzubringen. Ernst und Unterhaltung, Tragik und Komik sind in seinen Arbeiten – wie wir gerade gesehen haben – stets aufeinander bezogen, als zwei untrennbar verbundene Seiten der menschlichen Existenz, die es in ihrer Ambivalenz und Paradoxie auszuhalten und zu gestalten gilt.
E und U, die beiden trennenden Buchstaben, waren für die deutsche Vorstellung von hochwertiger Ästhetik lang zentral – Ernst ist gut, Unterhaltung weniger, lautete das poetische Credo. In Reinform war diese Trennung natürlich nie gültig, schon gar nicht in der Kunst – aber in der hiesigen Mehrheitsgesellschaft gibt es immer wieder die Tendenz, zum Eindeutigen zu streben – und wenn man dafür wesentliche Teile der faktischen Realität ausblendet, wenn man vereinfach und Menschen ausschließt.
Ausschluss statt Zusammenwirken: Das unternimmt derzeit unverhohlen und mit hohen Zustimmungsraten wieder eine Partei mit stark rechtsextremen Anteilen. Sie drängt in die Parlamente. Und hat bereits klar gemacht, dass sie einem gesellschafts-verändernden Vorhaben, wie es hier am Gorki umgesetzt wird, den Kampf ansagt. Das Erreichte ist prekär – und wir alle müssen mit darauf achten, dass es bewahrt bleibt. Lesen Sie unbedingt alle die aktuelle Theaterkolumne von Mely Kiyak fürs Gorki, in der sie eindrücklich warnt.
Aber zurück zu unserem Preisträger, mit dem dieser ästhetisch-politische Exkurs wesentlich verbunden ist. Nurkan Erpulat, geboren 1974 in Ankara, studierte Schauspiel in Izmir und kam 1998 nach Berlin, um an der Universität der Künste Theaterpädagogik und dann an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Regie zu studieren. Er war damals ein Pionier: der erste türkischstämmige Studierende an der traditionsreichen Berliner Theater-Hochschule.

Nurkan Erpulat ist ein Pionier geblieben, wie es sein beständiges Engagement für die Sache des Postmigrantischen Theaters belegt. Als selbstbewusster Gegenentwurf zu den etablierten Bühnenerzählungen startete das Projekt am Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße. Dort, an der Vorgänger-Institution des heutigen Gorki, haben Nurkan Erpulat und der Dramaturg Jens Hillje 2010 mit ihrer Stückentwicklung „Verrücktes Blut“ den Diskurs aufgemischt. Eine Schulklasse wird von ihrer Lehrerin mit Schillers „Räubern“ konfrontiert, mit vorgehaltenem Revolver. Der Klassiker des Sturm und Drang, gegen den sich die Schülerinnen und Schüler anfangs wehren, ist ihnen näher als sie selbst denken – und sie verstehen weit mehr von ihm als ihnen die deutsche Mehrheitsgesellschaft zutraut.
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„Verrücktes Blut“ ist ein kluges Spiel mit Zuschreibungen, ein Tanz der Stereotype. Am Gorki ist diese Signaturinszenierung immer noch zu sehen. Für die leichthändige Umsetzung schwerer Themen gab es damals – ein ehemaliger Berliner Finanzsenator hatte eben ein Buch veröffentlicht, das die Diskriminierung und den Ausschluss migrantisierter Personen legitimierte – gab es damals eine Einladung zum Berliner Theatertreffen, zu den Mülheimer Theatertagen und zum Festival radikal jung.
Dieser Erfolg hatte wirkmächtige Folgen: Drei Jahre später, 2013, eröffnete Nurkan Erpulat mit Tschechows „Kirschgarten“ das neue Gorki, das unter der Leitung von Shermin Langhoff und Jens Hillje zum ersten postmigrantischen Stadttheater Deutschlands wurde.
Nurkan Erpulats Lesart des „Kirschgartens“ war ein boulevardesk komisches, untergründig wütendes Manifest. Im Gewand des Klassikers feierte es den Aufstieg des türkischen Gemüsehändlers Lopachin zum Großgrundbesitzer. Deutschlands Mehrheitsgesellschaft konnte sich wiedererkennen, wenn sie mochte: als ideologisch abgewirtschaftet und in Nostalgie erstarrt, wie Tschechows verarmte Landeigner.
Mittlerweile, und hier kommen wir bei „Dschinns“ an, müssen auf dem Theater nicht mehr die eigenen Biographien für Stückentwicklungen herhalten, und es müssen auch nicht mehr Klassiker als Vorlage für zeitgenössische postmigrantische Geschichten dienen. Jetzt, endlich, gibt es die erfolgreichen, vielbeachteten literarischen Stoffe, die von den Erfahrungen migrantisierter Menschen erzählen. Fatma Aydemirs „Dschinns“ gehört dazu. Am Gorki hatte ihr Roman Premiere, am Gorki kommt er auch auf die Bühne – hier findet zusammen, was zusammen gehört.

Uns in der achtköpfigen Jury des Friedrich-Luft-Preises hat Nurkan Erpulats Inszenierung von „Dschinns“ als ein vielstimmiges, poetisches Zeugnis der Zeitgeschichte und ihrer Verwerfungen überzeugt.
Hier ist eine unglückliche Familie, um Tolstois berühmtes Zitat abzuwandeln, nicht nur auf ihre ganz eigene Weise unglücklich. Nein, es sind auch sehr deutlich die sozialen Strukturen benannt, die ein Menschenleben (ver-)formen – die Traditionen, Umgangsweisen und sozialpolitischen Entscheidungen, die Rassismen und Diskriminierungen, die in persönlichen Traumata resultieren und Individuen emotional versehren.
In der Theaterfassung von Nurkan Erpulat und Johannes Kirsten ist der erzählerische Reichtum, die Fülle an Details, die bisweilen auch spöttische Wärme von Fatma Aydemirs Vorlage erhalten. Souverän verdichtet ist die 360-seitige Vorlage.
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Nurkan Erpulat und das Ensemble – Melek Erenay (Emine), Aysima Ergün (Peri), Doğa Gürer (Ümit), Taner Şahintürk (Hakan), Çiğdem Teke (Sevda) und Anthony Hüseyin (Ciwan) – nutzen die mehrdimensionale Kunstform Theater aber auch, um dem Roman etwas Eigenes hinzuzufügen. Die Musik bildet eine eigene Erzählebene, verstärkt Trauer wie Freude und bringt die Szenerie zum Schweben. Die choreographische Auflösung der Szene, in der Ümit von seinem Schulfreund Jonas träumt, ist ebenso überzeugend wie die rasante Komik, mit der sich Sevda vom Dorfmädchen in den Stadtteenie verwandelt oder mit der Peri Ciwan umwirbt. Die künstlerische Kreativität aller Beteiligten ist so in „Dschinns“ eingeflossen.
Besonders berührt hat uns die Figur von Ciwan. Bei Anthony Hüseyin wird das verlorene oder vielmehr: weggegebene Kind zu einer Traumgestalt, die die Zeit- und Erzählebenen quert, die Geschlechter-Zuschreibungen und Kunstformen überschreitet. So kann „O“ als Figur nur auf dem Theater lebendig werden.
Wir von der Jury ehren „Dschinns“ als die für uns relevanteste Inszenierung der vergangenen Spielzeit. Wir würdigen damit auch die Konstanz eines Werkes, das lang marginalisierte Perspektiven konsequent in den Fokus rückt und damit wesentlich zu einer größeren Vielfalt der Erzählweisen und Ästhetiken auf dem Theater beigetragen hat.
Nurkan Erpulat, herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Friedrich-Luft-Preis 2023!