Gastbeitrag

Warum Anna Netrebkos Auftritt an der Staatsoper falsch ist

| Lesedauer: 6 Minuten
Anna Netrebko tritt in der Staatsoper in Berlin auf

Anna Netrebko tritt in der Staatsoper in Berlin auf

Anna Netrebko tritt am Freitag (15.9.) in „Macbeth“ in der Staatsoper in Berlin auf.

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Die Position der Ukraine: Ein Gastbeitrag von Oleksii Makeieev und Sergey Lagodinsky.

Berlin. Am Freitag wird Anna Netrebko in „Macbeth“ in der Staatsoper auftreten. Die österreichisch-russische Sopranistin geriet im Frühjahr 2022, kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, wegen ihrer Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Kritik, zahlreiche ihrer Auftritte wurden storniert. Die Staatsoper entschied sich nach Prüfung ihrer letzten Äußerungen gegen eine Absage. Daran ist Kritik geübt worden, unter anderem von Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) und vom Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU), Proteste vor der Staatsoper sind angekündigt. In unserem Gastbeitrag äußern sich der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, und Sergey Lagodinsky, Mitglied des Europäischen Parlaments. BM

In der kommenden Saison wird der Tyrann Macbeth auf der Bühne der Berliner Staatsoper wieder sterben. Gleichzeitig wird ein anderer Tyrann in Russland triumphieren – seine Ex-Unterstützerin Anna Netrebko tritt wieder auf der Weltbühne auf. „Macbeth ist tot, es lebe Putin.“ Lesen Sie auch: Wie Intendant Matthias Schulz auf die Causa Netrebko blickt

„Diese Erklärung ist ein Begnadigungsgesuch ohne Geständnis“

2012 unterstützte Frau Netrebko die „Wiederwahl“ Putins als Präsidenten der Russischen Föderation. 2014 ließ sie sich mit der Flagge von „Novorossija“ (ein Symbol für die russische Besatzung des Donbass) fotografieren. Sie trug das T-Shirt „Nach Berlin“ und setzte damit ein eindeutiges Zeichen für Moskau und gegen den Westen. Auch nach dem 24. Februar 2022 schwieg sie länger als einen Monat. Bis zu dem Zeitpunkt, als klar wurde: Russland wird verlieren, das sinkende russische Kriegsschiff ist zu verlassen.

In ihrer verspäteten Erklärung verurteilte Netrebko „den Krieg gegen die Ukraine“, ohne zu erwähnen, wer diesen Krieg überhaupt angefangen hat, wer ihn genozidal führt. Und was sie als Bürgerin und Künstlerin für eine Mitverantwortung daran trägt. Sie distanzierte sich von ihrer eigenen Vergangenheit, die „falsch interpretiert werden könnte“. Sie will nur mit ihrer Kunst „Frieden anstreben“. Sie liebe Russland, erklärt sie am Ende mit Stolz. Diese Erklärung ist ein Begnadigungsgesuch ohne Geständnis. Es anzunehmen heißt, Gerechtigkeit zu missachten. Trotzdem gab sich die Staatsoper Berlin damit zufrieden. Ihre Bühne wird mit Netrebko aussehen wie vor dem Krieg. Als ob nichts passiert sei. Als wären die Theater in Mariupol und Tschernihiw nicht durch Russland zerbombt worden.

Die deutschen Firmen verlassen Russland, die deutschen Städte stellen die Partnerschaften mit russischen Orten ein, die wissenschaftliche Zusammenarbeit wird gestoppt. Deutschland sagt damit: Die Lage ist alles andere als normal. Bei der Berliner Staatsoper läuft „culture as usual“. Die Deutsche Staatsoper setzt auch ein Zeichen, ein Zeichen der „Normalität“ und somit ein Zeichen des Wegschauens — als ob die Realität sich nicht verändert hätte.

„Keine Sopranstimme ersetzt die Stimme der Verantwortung“

Man kann eine Kultur nicht canceln. Man sollte ihre Repräsentanten aber pausieren lassen, wenn diese Kulturschaffenden eine Mitverantwortung tragen und sich trotzdem weigern, sie anzuerkennen. Gerade in Deutschland wissen wir – es reicht nicht, den Untergang als solchen zu benennen, man muss nach eigenem Beitrag dazu fragen. Schonungslos und eindeutig. Dieses Hinterfragen ist das A und O einer Aufklärung. In jeglichem Sinne. Die russische Gesellschaft fragt sich nicht, wie sehr sie selbst und nicht nur ihre Machthaber zum russischen Imperialismus beigetragen haben. Die Rolle der Kunst und Kultur mit ihren Bildern, Narrativen und offenen Ermutigungen bleibt unhinterfragt. Russland führt einen genozidalen Krieg, gleichzeitig werden die Klassiker über Kriegszüge gegen Tscherkessen und Tschetschenen, Gedichte über die „Kleinrussen“ und die Überlegenheit des russischen Weges gegenüber der westlichen Demokratie genossen. Ein stillschweigendes Propaganda-Einverständnis und ein bereitwilliges kulturelles Weiter-so ersetzen ein zwingend notwendiges Selbstgespräch.

Kritische russische Stimmen ihrer Kulturrepräsentanten zu diesem Aggressionskrieg sind rar. Die meisten, die protestieren, tun das mit den Füßen, nicht mit der Stimme. Die Minderheit, die ihre Stimme erhebt, erhebt sie gegen den Krieg, nicht gegen die imperiale Kultur. Die Wenigen, die gegen die imperiale Kultur protestieren, meinen damit die käuflichen Propagandakollegen, nicht den Imperialismus, den die gesamte russische Kultur mit ihrer Haltung und ihren Narrativen seit Jahrhunderten atmet. Lermontow, Puschkin, Tjutschew, die Liste kann und muss fortgesetzt werden. Nicht um die Namen zu tilgen, aber um die alten kulturellen Selbstverständlichkeiten zu verwerfen. Dieses Gespräch muss starten, sonst ist Russland nicht nur für jetzt, sondern für alle Ewigkeit verloren. Und das ist eine Gefahr für uns alle in Europa.

Und wir brauchen eine Haltung hier unter uns. Ja, Kunst lebt von Zweideutigkeiten und Tabubrüchen. Aber diese finden nur auf der Bühne statt. Keine Kulissen können den Hintergrund einer ehemaligen Putin-Unterstützerin verdecken. Und keine Sopranstimme ersetzt die Stimme der Verantwortung. Shakespeare hat sich geirrt – die Welt ist keine Bühne. Es gibt kein Abschminken der Vergangenheit. Man muss die Verantwortung anerkennen, man muss den Weg der Reue gehen, man muss sich schämen und sich entschuldigen können. Andernfalls soll es keine Verzeihung der Weltbühne geben.

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