Als einen Pilz darf man sich das Festival Tanz im August ab jetzt vorstellen: Oberirdisch sprießt für nur drei Wochen sein Fruchtkörper, aber unterirdisch werden monatelang Verbindungen geknüpft. Die Berliner Kultur wäre dann der Wald, ein vielfältiges Ökosystem, das vom Austausch lebt: Offen und dialogisch zeigt sich Ricardo Carmona, der neue Künstlerische Leiter des internationalen Tanzfestivals, bei der Vorstellung des diesjährigen Programms. Zehn Jahre lang hat war der studierte Biologe Tanzkurator des HAU Hebbel am Ufer, nun ist ihm bis 2025 das internationale Festival anvertraut. Und man darf sich auf die erste Ausgabe freuen, die er mit der Dramaturgin Alina Lauer zusammengestellt hat.
Wie sich Kulturen gegenseitig beeinflussen, zeigt die Eröffnung am zweiten Mittwoch im August: Ähnlichkeiten zwischen portugiesischen Volkstänzen und Street Dance findet Marco da Silva Ferreira in „Caracaça“. Taoufiq Izeddiou erkundet in „Hmadcha“ die Trance-Praktiken einer marokkanischen Sufi-Bruderschaft, und Radouan Mriziga greift in „Lybia“ die rein orale Überlieferung der Amazigh-Kultur auf und führt, begleitet von maghrebinischer Musik, eine nicht-imperiale Geschichtsschreibung vor Augen. Kooperativen (Über-)Lebensstrategien in schwierigen Zeiten widmet sich Serge Aimé Coulibaly, dessen „C la vie“ lustvoll die Vitalität und das Beharrungsvermögen feiert. Und Yasmeen Godder, die gesellschaftlichen Spaltungstendenzen in einem Mangel an Einfühlung gegründet sieht, übt in „Practicing Empathy“ den Zusammenhalt.
Über verschiedene Themenlinien führt Tanz im August so unterschiedliche Ästhetiken zusammen, von internationalen Kompanien wie von Berliner Künstlerinnen und Künstlern. Letztere gestalten vor allem das Projekt „Tanz und Ökologie vernetzen“, das an den Festival-Sonnabenden kostenfrei in drei öffentliche Parks einlädt. Organisch wirkt die Zusammenstellung – das Programm kündet von Hinwendung zu den Künstlerinnen bei gleichzeitigem Gestaltungswillen.
Es sind wieder eine Reihe lang bekannter Choreographen eingeladen
Dabei greift Carmona auf, was seine Vorgängerinnen geschaffen haben: Den internationalen Austausch hat Nele Hertling als Gründerin des 1989 noch westdeutschen Festivals initiiert, erste Kompanien aus Afrika waren schon zu Zeiten der TanzWerkstatt eingeladen, und die Berliner Szene fand auch bei Virve Sutinen Aufmerksamkeit. Mit Kat Válastur, die in „Strong-Born“ eine feministische Lesart von Euripides’ „Iphigenie“ vorstellt, und Agata Siniarska, die in „null void“ eine transhumane, Menschliches nicht mehr als Zentrum allen Seins setzende Wahrnehmung zu entwickeln sucht, ist Berlins Tanz auch in diesem Jahr vertreten.
Eingeladen sind etliche hier schon lang bekannte Choreographen: Die belgische Großmeisterin Anne Teresa de Keersmaeker, die das Festival seit dessen Gründung begleitet, ist mit ihrer neuen Arbeit zu Gast. Trajal Harrell, derzeit in Zürich, aber seit Beginn seiner Karriere immer wieder in Berlin, und Marlene Monteiro Freitas, deren „Mal – Embriaguez Divina“ eine grotesk-humorvolle, erfindungsreiche Show verspricht, haben sich unterdessen die großen Bühnen erobert. Konsequent ein Werk zu präsentieren statt immer neue Ästhetiken über die Bühne zu jagen, ist ebenfalls ein Aspekt von Nachhaltigkeit. In diesem Sinne: Es lebe die Pilz-Kultur.
Tanz im August vom 9. bis 26.9. Spielorte u.a. HAU Hebbel am Ufer, Haus der Berliner Festspiele, Radialsystem, Volksbühne www.tanzimaugust.de