Neu im Kino

Mit deutscher Gründlichkeit

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Barbara Schweizerhof
Ethnologe Hoffmann (Leonard Scheicher) ist beeindruckt von der Herero-Übersetzerin Kezia (Girley Charlene Jazama).

Ethnologe Hoffmann (Leonard Scheicher) ist beeindruckt von der Herero-Übersetzerin Kezia (Girley Charlene Jazama).

Foto: Studiocanal

Kaum zu glauben: „Der vermessene Mensch“ von Lars Kraume ist der erste Kinofilm über den Genozid der Deutschen an den Herero und Nama.

Wie gründlich Deutschland seine Vergangenheit als Kolonialmacht verdrängt hat, zeigt sich augenöffnend darin, dass Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“ der erste Spielfilm sein soll, der sie thematisiert. Wer das mit der Tatsache entschuldigen will, die Kolonialmachtszeit sei lange her und vielleicht gar nicht so prägend gewesen, muss nur einen Blick in Berliner Museen werfen.

Nicht nur in den zuletzt viel diskutierten Sammlungen der alten Völkerkunde-Abteilungen, sondern auch unter den scheinbar unverfänglichen, ungeheuer populären Objekten wie den Dinosaurier-Skeletten im Naturkundemuseum hat sich der deutsche Kolonialismus sehr wohl und prägend niedergeschlagen.

Was man messen kann, das gilt - also legt man das Lineal an Schädel an

Genau deshalb leuchtet es unmittelbar ein, dass Kraume einen Wissenschaftler zum Protagonisten seines Films macht. Der junge Ethnologe Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher), der sich im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts um eine akademische Karriere bemüht, ist neugierig auf die Welt, glaubt an die Objektivität seiner Wissenschaft und hält sich deshalb für aufgeklärt: Was man durch Messungen beweisen kann, das gilt. Und wer etwas über den Menschen und seine Kultur erfahren möchte – legt das Lineal an seinem Schädel an. Irgendwo muss man ja beginnen.

Die „Berliner Kolonialausstellung“, auf der Kraume seinen Protagonisten erstmals mit „Objekten“ seiner Forschung zusammenbringt, gab es tatsächlich. In Kulissendörfern im Treptower Park wurden 1896 Frauen, Männer und Kinder aus deutschen Kolonien genötigt, vermeintlich „eingeborenes“ Leben nachzustellen.

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Der Trailer zum Film: „Der vermessene Mensch“

Das heute nachzuinszenieren, ist kaum mehr möglich – nicht, weil es an filmischen Mitteln dazu mangeln würde: Das rassistische Arrangement einer solchen Schau zu wiederholen, wäre für alle Beteiligten, den Zuschauer miteingeschlossen, unzumutbar. Die ausschnitthaften, tableauhaften Einblicke, die Kraume in seinem Film gewährt, lassen bereits zusammenzucken.

Zu der Gruppe der Herero, die sich die Untersuchung gefallen lassen müssen, gehört die des Deutschen mächtige Übersetzerin Kezia (Girley Charlene Jazama), die sofort Hoffmanns Interesse weckt. Der Akt des Vermessens wird für den jungen Mann zu einer Lektion der anderen Art. Der eifrige Wissenschaftler begreift, dass ein „Es tut nicht weh“ nicht ausreicht, um die Demütigung dieser Messung zu lindern.

Kraume spielt mit dem Kitsch - und macht die Tragödie dadurch umso effektiver

Später versucht er es mit Fragen, die er den Herero im Forschungsinteresse stellen will. Aber auch hier stolpert er über die eigenen impliziten Vorurteile. Selbst sein Anpreisen von Kezias offensichtlicher Intelligenz ist noch durchdrungen von rassistischen Annahmen. Obwohl die Kommunikation also nicht recht gelingen will, bewahrt er ein Porträt von Kezia auf und träumt davon, sie wiederzusehen. Als wenige Jahre später Wissenschaftler gesucht werden, die im Tross des deutschen Militärs in Afrika Schädel und andere Artefakte sammeln sollen, meldet er sich freiwillig.

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Indem er mit dem Kitsch-Motiv spielt, dass da ein weißer Mann durch die Begegnung mit einer schwarzen Frau seine Vorurteile überwindet, macht Kraume die Tragödie, von der er erzählt, umso effektiver. Denn es passiert das Gegenteil: Hoffmann wird unmittelbarer Zeuge des Genozids der Deutschen an den Herero und Nama.

Seine Unfähigkeit, einzuschreiten, und sein schäbiges Auftreten angesichts des Grauens entschuldigt er vor sich selbst als nötiges Opfer für die Wissenschaft. Auch vor Dingen wie Grabraub scheut er schließlich nicht zurück.

Gerade weil er kein „Täter“ im eigentlichen Sinn ist, sondern nur ein sich objektiv wähnender Mitläufer, gelingt Kraume mit dieser Figur ein starkes Porträt genau jener verheerenden Wissenschaftstradition, die dem deutschen Faschismus Vorschub leistete.