Der Tod ist, nach Paul Celan berühmtem Gedicht, ein Meister aus Deutschland. Aber ist er nicht ebenso einer aus Russland? Und das nicht erst seit Putins sinnlosem, völkerrechtsbrechendem Angriff auf die Ukraine. Sondern schon seit den stalinistischen Säuberungswellen, mit denen die kommunistische Revolution einst ihre eigenen Kinder geschlachtet hat.
In „Kremulator“, dem neuen Roman von Sasha Filipenko geht es um eben diese Säuberungen. Und um einen Meister des Todes. Pjotr Nesterenko ist der Direktor des Krematoriums in Moskau, in dem all die zahllosen Opfer landen. Vermeintliche Spione. Aber auch ehemalige Revolutionshelden. Leiche rein, Asche raus, Knochenreste im titelgebenden Kremulator zermahlen. Und das Tag um Tag. Für die offiziellen Leichen. Und Nacht für Nacht. Für die inoffiziellen. Eine Fließbandarbeit. Sachlich in Zahlen festgehalten.
Ein Buch, das in tiefer Vergangenheit spielt und doch viel von heute erzählt
„Ich habe ein ganzes Land eingeäschert“, sagt Nesterenko einmal in diesem in Ich-Form geschriebenen Roman. Er sagt es nicht etwa mit Stolz, aber auch nicht mit Bedauern. Eher sachlich. Und doch auch mit prosaischem Vergleich: „Ein Gott der Asche war ich. Alle Vulkane der Welt erblassen angesichts der Mengen von Asche, die ich jeden Tag produzierte.“ Seinen Leichenkeller sieht er als Unterwelt. Und sich als Hades, der über das Totenreich herrscht. Der Charon von Moskau.
Irgendwann sind unter den Leichen, die täglich herangekarrt werden, auch die, die ihm einst Leichen herangekarrt haben. Klar, dass die Häscher da irgendwann auch vor seiner Türe stehen und er selbst in die Mühlen, den Fleischwolf, den Kremulator des Stalinismus gerät. Darauf wartet nicht nur der Leser. Nesterenko wartet auch darauf.
Mit dem Unterschied freilich, dass er überzeugt ist, dass er gar nicht sterben kann. Warum nicht? Weil er den Tod seit Jahrzehnten probt, wie er einmal meint. Und weil der perfekt zu ihm passt. „Ich tanze mit ihm, schlafe an seiner Seite und schütte ihm mein Herz aus.“ Schon früh hat er mit dem Tod Kontakt, im Ersten Weltkrieg, als um herum alle starben. Dann beim Feldgericht, bei dem er Deserteure zum Tod verurteilen muss. Bis er selbst desertiert. Immer wieder springt er dem Tod von der Schippe, wird quasi sein Komplize geworden. Nur folgerichtig, dass er irgendwann das Amt im ersten Krematorium von Moskau übernimmt.
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Das Spannende an diesem Roman, dieser Beichte eines Lebens mit dem Tod, ist die doppelte Erzählhaltung. Größtenteils legt Filipenko das als peinvollen Dialog an, mit den Verhören, denen der Ich-Erzähler sich immer wieder unterziehen muss, 1941 im berüchtigten Gefängnis von Saratow, durch einen jungen, überzeugten, übereifrigen Kommunisten, den er nur „Genosse Ermittler“ nennt.
Ein qualvolles Frage-Antwort-Spiel, dem sich der Verhörte indes nicht nur durch blumig-metaphorische Antworten entzieht. Sondern auch durch einen heimlichen, zweiten Dialog, in direkter Ansprache an ein „Du“, hinter dem die Leser bald seine große Liebe erkennen. Eine Liebe, von der man sich schon bald fragt, ob das eine echte ist oder eine imaginierte, und wenn sie echt ist, ob die Geliebte noch zu den Lebenden zählt oder auch schon in den Mahlstrom des Todes geraten ist.
Zwei Erzählhaltungen: Ein peinvolles Verhör – und eine Liebesbeichte
Diese doppelte Erzählperspektive ist der große Reiz des Buchs. Denn Pjotr Nesterenko hat es wirklich gegeben. Dokumente über seine Verhöre liegen vor, der Autor konnte darauf zugreifen. Und doch ist „Kremulator“ kein Sachbuch, sondern ein Roman, der virtuos mit Fakten und Fiktion spielt. Und mit wilder Fantasie ein Leben rekapituliert, das doch exemplarisch ist.
Filipenko ist ein belarussischer Autor, der auf Russisch schreibt. Und doch wurde ihm beides zum Fluch. Immer wieder hat er Lukaschenko, den Diktator seiner Heimat kritisiert. In seinem letzten Roman „Der ehemalige Sohn“ hat er einen ähnlich meisterlichen Kunstgriff angewendet, indem das Koma eines jungen Mannes zur Allegorie auf den Stillstand seines Landes wurde, in dem sich nichts geändert hat. Auch wenn man nach zehn Jahren wieder erwacht. Klar, dass Filipenko in Belarus nicht mehr erwünscht ist. Aber auch nicht mehr in Russland, wo er zuletzt gelebt hatte.
In der Schweiz, wo seine Bücher auf Deutsch erscheinen, ist ihm Exil gewährt worden. Und unverdrossen klagt er das Unrecht an. Sprach er auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2022 an der Seite der belarussischen Oppositionsführerin Sviatlana Tsikhanouskaya. Schrieb nach Putins Überfall Artikel über den Krieg und die „dysfunktionale Familienangelegenheit“ zwischen Belarus, Russland und der Ukraine. Sein erster Roman, den er im Exil geschrieben hat, spielt nun in vermeintlich tiefer Vergangenheit. Und doch ist die Gegenwart allgegenwärtig.
Aus Liebe ein Pakt mit dem Tod
Denn die Lebensbeichte, die dieser Meister des Todes da gibt, vermeintlich seinem Verhörer, heimlich seiner Geliebten, tatsächlich aber sich selbst (und uns Lesern), es ist eine Odyssee durch die Wirren jener Zeit, wo es ihn im Großen Krieg auch in die Ukraine verschlägt, nach Kiew und auf die Krim. Natürlich muss man da immerzu an den heutigen Krieg denken, wo dort wieder gemordet wird und ein ganzes Land in Asche liegt.
Und dann ist „Kremulator“ auch eine Flüchtlingsgeschichte, wie sie sich ähnlich derzeit tausendfach abspielt. Weg von den Russen, weg von der Todesangst. In den sicheren Westen. Wo sich Nesterenko aber stets fremd fühlt. Bis er zurückkehrt. Nicht aus Liebe zu seinem Land. Sondern wegen seiner großen Liebe. Für sie schließt er den Pakt mit dem Tod.
Mit bewundernswertem Mut und rabenschwarzem Humor schreibt sich Filipenko da seine Wut von der Seele. Mit einem Alter Ego, das ebenfalls verstoßen und geächtet wird Das Krematorium wird dabei die zentrale Metapher für das sinnlose Morden und Wüten eines russischen Herrschers. Und der Begriff Kremulator wurde wohl nicht zufällig zum Titel gewählt, steckt das Wort Kreml doch mit drin. Der Roman ist keine Anklage. Doch er gibt den Opfern, die zum Schweigen gebracht wurden, eine Stimme.