Dicht ist der Nebel, der das Publikum in der Halle des Radialsystems erwartet. Vier Gestalten mit wunderlichem Kopfputz tauchen auf: Sind es Aliens, Fische, Blütenknospen? Für Sasha Waltz’ Premiere „Beethoven 7“ haben die Kostümbildner Bernd Skodzig und Federico Polucci ihre Kunst ins Phantastische verschoben. Ihre Hauben verstärken im ersten Teil von Waltz’ Doppel-Abend das Technoid-Organische der Mischwesen, die sich zu den ersten Klängen von Diego Nogueras „Freiheit/Extasis“ über die Bühne tasten als seien ihre Gliedmaßen Fühler oder Sonden.
Sasha Waltz & Guests: Wie vom Strom erfasst
Dazu lässt der Berliner Komponist, den die Compagnie Sasha Waltz & Guests eigens beauftragt hat, aus der von ihm selbst live bedienten Soundelektronik Wellen anbranden und Kiesel rutschen. Aus den mit Industriellem gemixten Naturklängen werden bald Techno-Beats, die immer lauter und härter durch die Halle peitschen. Auf der Bühne schwappen die Schwarmbewegungen der Tänzerinnen und Tänzer in ihren transparenten, körperumspielenden Leibchen weniger vehement vor und zurück. Die Gruppe wirkt wie von einem pulsierenden Strom erfasst, gelegentliches Zucken inbegriffen. Aber insgesamt erscheint die Verbindung zwischen Klang und Körpern weniger zwingend als man das bei einem passgenau miteinander entwickelten Stück vermuten könnte.
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Eindeutiger ist der zweite Teil des Premieren-Doppels, den Sasha Waltz zu Beethovens 7. Symphonie choreographiert hat. Zwei Sätze hat sie schon 2021 in Delphi aufgeführt, nun widmet sich die Berliner Choreographin allen vier symphonischen Sätzen. Das Vivace reißt gleich beschwingt mit. In der Instrumentierung mit den wortwörtlichen Pauken und Trompeten ertönen triumphale Akzente. Voller Freude lehnen sich die vierzehn Tänzerinnen und Tänzer in die Drehungen und Sprünge, in das Wiegen der Arme und die Neigung des Körpers auf verschiedenen Kreisbahnen. Weich schwingen ihre apricotfarbenen Kostüme mit. Das fließende Gleiten bietet ein Bild unbeschwerter Heiterkeit. Die Verwandtschaft mit Choreographien von Tanztheater-Ikonen wie Pina Bausch oder Anne Teresa de Keersmaeker ist unverkannbar.
„Beethoven 7“: Die Kunst und die Moral
Vor dem zweiten Satz tauschen die Tanzenden ihre Kleider gegen helle Trikots und schwarze Röcke oder Hosen. Atmosphärisch ist eine Verdüsterung zu spüren. Die abstrakte Anmutung des Schreitens, Drehens, Hüpfens, das an die Girlanden höfischer Tänze erinnert, weicht konkreten, narrativen Eindrücken. Orlando Rodriguez’ Glieder beben, als sei er entkräftet. Tian Gao wendet sich ihm zu, fühlt sich empathisch in seine fahrigen Bewegungen ein, bis das Zittern die ganze Gruppe ergreift. Im 4. Satz, dem Allegro con brio, erheben sich diese Versehrten, um stolz zu kämpfen. Immer wieder ziehen die Tänzerinnen ihre Arme auseinander als hielten sie eine Waffe und zielten auf einen imaginären Gegner.
Der Komposition ist das eingeschrieben: Beethoven komponierte die 7. Symphonie 1811/12, als die europäischen Nationen begannen, sich gegen Napoleons Herrschaft aufzulehnen. Freiheit ist also auch hier das Thema. Sasha Waltz zielt dabei auf Zeitlosigkeit. Wenn Annapaola Leso eine irisierende Fahne schwingt als sei der revolutionäre Geist ein inspirierender Lufthauch, lässt sich an diese Szene jede politische Botschaft andocken. Auch in der Rahmung enthält sich Waltz jeglicher Solidaritätsbekundung: Kein „Frau, Leben, Freiheit“ weit und breit. Entlastet das die Kunst von moralischer Überfrachtung – oder ist es irritierend?
Weitere Vorführungen am 31. August, 1., 2. und 3. September 2023