Die nahegehendsten Momente entstehen in der Stille und auch in der Schlichtheit, das ist eine alte ästhetische Erfahrung. Es ist bei der Uraufführung von Sasha Waltz’ neuem Tanzstücks „Sym-phonie MMXX“ wieder einmal zu erleben. Ungefähr in der Mitte des anderthalbstündigen Abends beginnt Georg Friedrich Haas’ monströse Überwältigungsmusik zu schweigen, die große, leere Bühne der Staatsoper gehört 17 Minuten lang allein den Tänzern und Tänzerinnen. Es ist ein langer Moment voller Pathos und heiligem Ernst.
Die Gruppe schreitet in Zeitlupe von hinten vor zur Bühnenrampe. Einer nach dem anderen wird dabei von zwei Tänzern liebevoll und behutsam auf den Boden gelegt. Es ist ein Ritual des kollektiven Sterbens. Der Weg des Dahinsiechens führt fast bis an den Orchestergraben. An der Rampe angekommen rollt sich das Bild in Zeitlupe wieder rückwärts auf. Die Gruppe lebt wieder auf. Und man reibt sich als Zuschauer verwundert die Augen, dass man die ganze Zeit über von den vergleichsweise sparsamen Bewegungen gefesselt blieb.
Ein ungewöhnlich düsteres Bildepos hat die Berliner Choreographin Sasha Waltz auf die Bühne der Staatsoper gebracht. Wie der Titel „Sym-phonie MMXX“ andeutet, handelt es sich um eine verspätete Uraufführung aus dem Jahr 2020. Die Pandemie kam beim Staatsballett Berlin dazwischen.
Überhaupt hat sich in der Zwischenzeit im Staatsballett, in dessen Repertoire die neue Produktion eingeht, einiges verändert. Genau genommen sollte die jetzt uraufgeführte „Sym-phonie MMXX“ für jenes Fusionsmodell stehen, womit Sasha Waltz und Johannes Öhman als Ko-Intendanten beim Staatsballett antraten. Klassisches Spitzenballett der russischen Schule und zeitgenössischer Tanz a la Sasha Waltz sollten zusammen finden. Für ihre Zeit der Intendanz genehmigte die Berliner Kulturpolitik dem Führungsduo sogar zwölf weitere Tänzerstellen, die für das Zeitgenössische zuständig sein sollten.
Die zeitgenössischen Tänzer konnten nicht bleiben
Die Doppelintendanz scheiterte nach nur fünf gemeinsamen Monaten, Öhman wechselte nach Stockholm. Sasha Waltz kehrte zu ihrer wunderbaren Stammcompagnie Sasha Waltz & Guests zurück. Beim Staatsballett mussten die Scherben zusammen gekehrt werden. Dazu gehörte auch, die zwölf Stellen nicht weiter zu verlängern. Chloé Lopes Gomes, die erste schwarze Ballerina der Berliner Compagnie, zog daraufhin mit Rassismusvorwürfen vors Arbeitsgericht. Von den zwölf Tänzern und Tänzerinnen war jetzt bei der Uraufführung keiner dabei.
Die Staatsballett-Uraufführung läuft offiziell als eine Koproduktion mit Sasha waltz & Guests. Es sind die Tänzer der Choreographin. Der Abend offenbart, welche unüberbrückbaren Welten zwischen den beiden Compagnien liegen. In einer Szene von „Sym-phonie MMXX“ mag man eine versteckte Parodie auf das klassische Ballett, das sich traditionell immer in die Höhe schwingen will, entdecken. Das Pas de deux und das Corps de Ballet bleiben ganz in Schwarz in der Bodenhaftung gefangen. Zu den größten Differenzen zählt der Umgang mit Massenszenen, wofür Sasha Waltz ihren eigenen Stil entwickelt hat. Dazu gehört auch ihre Art, die verschiedensten Gruppendynamiken immer wieder in die Erstarrung zu führen. Wie für einen Schnappschuss.
Einige ihrer choreographischen Skizzen sind im Programmheft abgedruckt. Ebenso die Kostümentwürfe von Bernd Skodzig, die von zeitloser Eleganz künden, auch wenn man die Beschriftung „Priester“ entdeckt. Sasha Waltz ist zweifellos ein Stück zur Zeit gelungen. Es fängt die Stimmungen des Krieges ein. Sie selbst wollte sich zunächst nur mit Demokratiebewegungen auseinandersetzen. Die durchchoreographierten Massenaufmärsche der Tänzer, die Gruppenbildungen, die Gesten der Aggressionen und des Steinewerfens und die Anleihen asiatischer Kampfkünste verweisen auf weltweit zu beobachtende Konflikte der Gegenwart.
Die Produktion will Tanz, Licht und Orchestermusik verbinden
Eine riesige Mauer hat Bühnenbildnerin Pia Maier Schriever den Tänzern entgegengesetzt. Zunächst steht sie auf der Rückseite, dann linker Hand, zwischendurch trennt sie die Gruppen, ganz am Ende senkt sie sich bedrohlich auf die Tänzer herab. „Sym-phonie MMXX“ will ein Gesamtkunstwerk für Tanz, Licht und Orchester sein. Sasha Waltz nennt ihre Tanzszenen „Dark Phantasy“, „Soldiers“, „Vulcano“ oder „Rachefrauen“. Die zeitgenössische Musik von Georg Friedrich Haas gibt ihr dafür kaum eine tänzerische Strukturierung und schon gar keine Melodien in die Hand. Die erste Ballettmusik von Haas setzt auf flirrende Klangmassen, auf das Auf- und Abschwellen der Instrumente, auf Kontraste. Es klingt nach einer bedrohlichen Schwarmintelligenz. Ilan Volkov dirigiert die Staatskapelle. Die Uraufführung wird am Ende vom Publikum bejubelt.