Die Komische Oper startet ihren ersten Satelliten. „Wir eröffnen das Festival, das erstmals außerhalb der Mauern der Komischen Oper stattfindet“, sagt Schorsch Kamerun. Im Neuköllner Vollgutlager wird heute das Festival „Schall & Rausch“ mit Kameruns ambitioniertem Programm „Der diskrete Charme der Reduktion“ eröffnet. Es ist ein Vorbote auf das, was das Opernhaus in seiner mehrjährigen Sanierungs- und Neubauphase dem Publikum quer durch die Stadt anbieten will. Bereits im Sommer wird das Opernensemble in sein Ausweichquartier Schiller-Theater umziehen.
Fünf Schaufensterpuppen warten geduldig in einer Ecke des Vollgutlagers. „Sie gehören in das Ensemble, wir nennen sie Neo-Bürger. Wir Künstlerinnen abstrahieren ja gern die Dinge. In dem Fall sind es Leute, die vielleicht Protagonisten unserer Texte sein könnten“, sagt Schorsch Kamerun. „Wir haben vorher Gespräche mit ganz vielen Menschen in Neukölln, aber auch mit Expertinnen, die sich mit dem Thema Postwachstum und Degrowth beschäftigen, geführt. Auf dem Gelände hier bauen auch Leute an Häusern, bei denen es um Wiederverwertung von Materialien geht.“
Im großen Lagerraum, der zum Areal der Alten Kindl-Brauerei gehört, fallen außerdem einige große gelbe Kugeln, Podeste und Überdachungen auf. „Unsere Raumgestalterin Katja Eichbaum verwendet viele Sachen, die bereits woanders spielten“, sagt der 59-jährige Künstler. „Gerade bei unserem Thema wollten wir nicht extra bauen lassen, um es anschließend gleich wegzuwerfen. Es sind Dinge von der Volksbühne dabei, die wir uns geliehen haben. Einiges stammt aus Bremen, wo wir noch eine Oper, ,King Arthur’ von Purcell, am Laufen haben.“ Der große aufblasbare Elefant sei nur geliehen. „Ich mag auch verschwenderisch sein in der Kunst bis hin zum Pathos, aber dass danach immer alles weggeworfen wird, das muss aufhören. Ich finde, das sollte auch in der Kulturproduktion Standard werden. “
Das Eröffnungsprogramm ist eine begehbare Konzertinstallation
Schorsch Kamerun, der eigentlich Thomas Sehl heißt, hat sich als Sänger, Autor, Theaterregisseur oder Clubbetreiber einen Namen gemacht. Auch sein Projekt in Neukölln fällt wieder mal aus der Reihe. „Wir vertonen einen künstlichen Platz, wie ein Filmset. Das Ganze ist eine begehbare Konzertinstallation, wo die Zuschauerinnen frei herumlaufen können. Wir organisieren zwar ein Konzert, es könnte aber auch ein Zukunfts-Camp sein“, sagt der Regisseur. Es gehe darum Fragen zu stellen, wie man künftig mit einer verträglicheren Welt auskomme. „Wir müssen als Menschheit unsere materiellen Ansprüche deutlich verkleinern. Ökologisch wissen wir das längst alle. Aber wie geht das ohne schnöden Verzicht? Was wir also brauchen, ist eine attraktive Reduktion.“
Das sei nicht einfach zu vermitteln, weiß Schorsch Kamerun. Denn keine Partei würde bislang gewählt werden, wenn sie verspricht, im kommenden Jahr drei Prozent weniger Wachstum durchzusetzen. Kamerun erinnert sich an eine Begegnung mit Winfried Kretschmann, dem grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Der habe am Anfang versichert, mit ihm werde es weniger Autos geben. Dann hatte er aber Treffen mit Autoindustriellen seines Landes. Es gab gemeinsame Fotos.
„Eine Quelle für uns ist der Club of Rome. Das ist eine internationale Organisation von Expertinnen, die bereits vor 50 Jahren das Ende des Wachstums vorausgesagt haben. Auch daraus machen mein Mitmusiker PC Nackt und ich Texte und Songs“, sagt Kamerun. „Im Programm treten Musikerinnen, Performerinnen, ein Opernsänger und eine Schauspielerin auf, der Richardchor aus dem Neuköllner Richard-Kiez ist dabei. Es gibt über 50 Mitwirkende. Wir spielen ein musikalisches Labor der Reduktion.“
Die Punkband ist ein wichtiges Stück von Schorsch Kameruns Identität
Er mache auch mit, sagt Kamerun: „Ich bin ja schon ein sehr interessanter Sänger.“ Dann lacht er. Seine Band sei rüstig, fügt er noch hinzu. Schorsch Kamerun war 1984 Gründungsmitglied und ist bis heute Sänger der Hamburger Punkband „Die Goldenen Zitronen“. Das ist ein wichtiges Stück seiner Identität. Allerdings hat sich generell das Anarchische im Kulturbetrieb verändert. „Wenn ich mit einem Irokesenschnitt hier sitzen und Punk brüllen würde, wäre es aktuell nicht mehr anarchisch. Aber ich glaube, dass man in der Kunst immer noch radikal sein kann.“
Manche Slogans hätten sich interessanterweise verdreht, sagt Kamerun. „Beim Punk komme ich aus der No-Future-Bewegung. Heute spricht man von For Future. Mit ganz ähnlichen Zielen. In den 1980er-Jahren hatten wir Waldsterben, Atomkraft und Kalten Krieg. Das sind Dinge, die wir heute auch wieder als Bedrohung fühlen. Fridays for Future finde ich toll, aber als Bewegung sehr ernst. Wir waren irgendwie spielerischer, unser Punk sollte zuallererst irritieren.“
Etwas irritierend ist der erste Blick ins Vollgutlager jetzt auch. „Es hat etwas sehr Freies, Surreales und man kann sich mit Kopfhörern ungehindert im Raum bewegen“, sagt Kamerun. „Trotzdem gibt es eine klare Struktur im Ablauf. Das Ganze dauert etwa anderthalb Stunden. Beim Festival spielen wir es insgesamt vier Mal.“
Musikalisch hat der diskrete Charme der Reduktion offenbar weniger mit dem zu tun, was man von der Komischen Oper erwartet. „Wir machen auch klassische Musik, aber es ist eine Vermischung“, sagt Kamerun. „Von Bach gibt es diese ganz tolle Kantate ,Ich habe genug’. Das passt wunderbar in unser Thema. Von Mahler spielen wir das Rückert-Lied ,Ich bin der Welt abhanden gekommen’. Daneben gibt es Texte aus Interviews und auch von meiner Band, beispielsweise ,Wir verlassen die Erde’.“ Es sei schon bemerkenswert, sagt der Sänger, „dass Künstlerinnen aus verschiedenen Genres und Zeiten ähnlich ambivalente Themen verarbeiten. Mich berührt Schuberts Wanderer und dessen Zweifel auch heute noch sehr.“
Der Sänger und Provokateur erforscht gerne die Opernwelten
Als Sänger, Regisseur und Provokateur ist Kamerun in Deutschland auf verschiedenen Spielfeldern unterwegs. „Ich habe große Lust, die Opernwelten zu erforschen“, sagt er. „In München habe ich etwas mit Kent Nagano gemacht. Wir haben uns blendend verstanden. “ Dirigenten bezeichnet er gern als Typen, dann meint er Pultstars wie Nagano oder Dennis Russell Davies. Kameruns Projekte haben es oft in sich. In der Volksbühne hatte er 2019 mit „Das Bauhaus. Ein rettendes Requiem“ für verspielte Erkenntnisse gesorgt. „Als nächstes gehen wir ans Residenztheater München und probieren Goethes ,Reinecke Fuchs’“, sagt er. „Ein Superkiller, der stark an heutige Fake-Typen erinnert. Auch daraus wollen wir ein Konzertspiel machen.“
„Schall & Rausch“, das von Rainer Simon geleitete Festival für brandneues Musiktheater, ist zunächst für fünf Jahre geplant. Regisseur Kamerun meint mit Blick auf den neuen Neuköllner Satelliten der Komischen Oper, dass es richtig sei, „mal die Institution zu verlassen, weil viele Leute ein falsches Bild von Opernhäusern und Theatern haben. Sie denken an unüberwindbare Mauern. Aber eigentlich müssen wir als Bürgerinnen verstehen, dass diese Orte uns allen gehören. Da entscheiden keine Fabrikbesitzerinnen, sondern nur Theaterleute, die eine Zeit lang den Auftrag haben, etwas ausprobieren zu dürfen.“ Häuser zu öffnen, auch an andere Orte zu gehen, um auf Oper, Theater und Musik zu treffen, fände er regelrecht zwingend.
Der politisch engagierte Künstler hat einige Themen, die ihn umtreiben. Dazu zählt die künstliche Intelligenz mit ihren Chancen und Selbstabschaffungsrisiken. „Dass wir das Kompensationsthema kritisch überdenken, finde ich wirklich wichtig“, sagt Kamerun. „Man fliegt irgendwohin, zahlt dafür einen Fuffi und lässt damit wegen des schlechten Gewissens einen Baum pflanzen. Die Tierwohlampel ist ein krankes Modell. Es darf grundsätzlich kein rotes Fleisch mehr geben. Und wenn ich mal etwas weniger Geld in der Tasche habe, dann kaufe ich orangenes Fleisch, wo die Tiere nicht ganz so schlecht behandelt werden? Diese Art des Zwischenverhandelns ist Scheiße.“ Die Gesellschaft brauche klare Vereinbarungen darüber, was für unsere Welt richtig oder falsch ist.
Vollgutlager, Rollbergstr. 26, Neukölln. Schall&Rausch, Festival für brandneues Musiktheater vom 17. bis 26.2.