Schon der Auftakt ist genial. Da steht ein älterer Mann am Totenbett einer jungen Frau und schluchzt: „Papa!“ Da denkt man erst mal: Hä? Als nächstes fährt ein junges Paar auf eine Insel. Dort empfängt sie der ältere Herr. Und das Mädchen fragt ihn zögernd: „Stella?“ Da denkt man gleich noch einmal: Hä? Oder wie der junge Mann daneben es so treffend formuliert: „Wo sind wir hier?“ Ja, das fragt man sich als Zuschauer erst mal auch auch.
Wir sind hier in „Aus meiner Haut“, einem der innovativsten und aufregendsten deutschen Filme seit langer Zeit, der am 2. Februar ins Kino kommt. Was uns hier erzählt wird, ist eigentlich Science-Fiction, aber eine, die ohne futuristische Effekte auskommt. In einer nahen Zukunft, die ganz wie die unsere aussieht, ist es möglich, seine Körper zu tauschen.
„Wo sind wir hier?“ Das fragt sich der Zuschauer anfangs auch
Stellas Vater (Edgar Selge) hat dafür ein spirituelle Zentrum auf einer entlegenen Insel errichtet. Und auch der Körpertausch kommt ganz ohne Trick-Schnickschnack aus. Es ist eher ein schamanisches Ritual, für das man einen zylinderförmigen Bau im Park betritt, seine Kleider ablegt, in ein Wasserbassin steigt. Und dann ein anderer wird.
Stellas Vater hat das zuletzt mit seiner eigenen Tochter getan. Wohl auch als Opfer. Weil er wusste, dass seine Tochter todkrank ist. Ihr Körper ist dann auch gestorben. Aber eben mit ihm darin. Während sie in des Vaters Körper weiterlebt. Und seine Arbeit fortsetzt. Sehr zum Leidwesen von Roman (Thomas Wodianka), dem Geliebten des Vaters, der ständig seinen ehemaligen Partner vor Augen hat – in dem nun aber ein anderer Mensch steckt, ohne die Gefühle zu ihm.
Mehr zum Thema: Die Brüder Alex und Dimitrij Schaad im Interview über ihren Film
Sie sind verwirrt? Das ist erst der Anfang. Auch das Pärchen, mit dem man als Zuschauer auf diese Insel kommt, hat einen Hintergedanken bei der Reise. Tristan (Jonas Dassler) liebt Leyla (Mala Emde), aber sie leidet an Depressionen, verzweifelt zunehmend an sich selbst. Und will einmal wieder, zumindest für kurze Zeit, erleben, wie es sich in einem heilen, gesunden Körper anfühlt.
Der Körpertausch verläuft paarweise und per Losverfahren. Tristan und Leyla treffen so auf Mo (Dimitrij Schaad) und Fabienne (Maryam Zaree). Und die könnten unterschiedlicher nicht sein: Leyla ist still, zurückgenommen, tieftraurig; Fabienne offen, selbstbewusst, zugewandt. Tristan ist verträumt, zärtlich, feminin; Mo vulgär, zynisch und penetrant.
Science-Fiction der anderen Art - mit nur einem Effekt: virtuosem Schauspiel
Vor allem die männlichen Hauptdarsteller tragen hier anfangs fast zu dick auf. Aber schon bald wird klar, wieso. Weil es dann umso spannender ist, wenn plötzlich Dassler Schaads Rolle als Macho-Ekel übernimmt und Schaad nun den Gefühlvollen gibt.
Das führt auch gleich zu sexuellen Verwirrungen. Tristan-im-Körper-von-Mo ist magisch angezogen von Fabienne-im-Körper-von-Leyla. Und ist das wirklich ein Seitensprung, wenn man Sex mit dem Körper der Freundin hat? Dann drängt sich aber auch Mo-im-Körper-von-Tristan dem Tristan-im-Körper-von-Mo auf. Und meint, das sei doch letztlich Sex mit sich selbst. Worauf der Bedrängte das Experiment abrupt abbricht. Und alle in ihre eigenen Körper zurückkehren.
Mehr zum Thema: Durchstart nach Vollbremsung: Ein Spaziergang mit Dimitrij Schaad
Das führt zu noch viel tiefgreifenderen Irritationen. Mo und Fabienne müssen erkennen, dass ein bloßer Körpertausch auf Zeit ihnen nicht über ihre offensichtlichen Probleme hinweghilft. Leyla aber ist entsetzt, dass ihr Freund den Abbruch nicht mir ihr abgesprochen hat. Hat sie doch erstmals seit langem eine Zeit der Befreiung und Erlösung erlebt. Sie will das gleich wieder tun. Und diesmal bietet sich ihr Roman dafür an.
Ein Spiel mit vielen Ebenen und grundsätzliche Fragen zur Identität
Der Film ist also weit mehr als Science-Fiction – ein Gedanken-Spiel. Mit einem einzigen, ganz einfachen und doch so nachhaltigen visuellen Effekt: dem virtuosen Spiel der Darsteller. Als Zuschauer muss man es sich verkneifen, zwischendrin mal aufs Töpfchen zu gehen. Weil man sonst vielleicht nicht mehr mitkommt, wer gerade in wessen Körper steckt. Aber vielleicht wäre es gerade einen Versuch wert: ob es den Darstellern gelingt, das auch so kenntlich zu machen.
Für die Schauspieler ist der Film jedenfalls ein großes Geschenk, um mal nicht nur eine Rolle, sondern eine ganze Bandbreite spielen zu dürfen, Aus-der-Rolle- und Aus-der-Haut-Fahren inklusive. Das mehrfache Körper-wechel-dich-Spiel führt zu einer sinnverwirrenden, aber gerade dadurch sehr aufregenden Liebesszene. Doch das Drama beginnt erst richtig, als Leyla nicht mehr in ihren alten, depressiven Körper zurück will. Und das auch nicht mit ihrem Freund absprechen will.
Lesen Sie auch: Zum Dokumentarfilm über Daniel Richter - ein Atelierbesuch bei dem Maler
Den sogenannten Bodyswitch kennt man fast nur aus Komödien wie „Die Frau im Manne“ oder „Ein Solo für Zwei“, wo die Geschlechter getauscht werden, oder „Freaky Friday“ und „Big“, wo Jugendliche plötzlich Erwachsene sind und andersrum. Womit stets typisches Rollen- und Normverhalten durch den Kakao gezogen und so in Frage gestellt werden. Regisseur Alex Schaad, der für seinen Kurzfilm „Invention of Trust“ einen Studenten-Oscar gewann, und sein Bruder, der „Känguru-Chroniken“-Star Dimitrij Schaad, die gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben, meinen es aber ernst mit ihrem Langfilmdebüt.
Ein Film, der buchstäblich unter die Haut geht
Es geht hier um die hochkomplexe Frage der Identität, die auf mehreren Ebenen verhandelt wird. Es geht um die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt, die hier aufweichen. Um die prinzipielle Frage, wer wir sind und was uns ausmacht. Und auch um die derzeit vieldiskutierten Begriffe Gender und Genderfluidität. Wozu „Aus meiner Haut“ nun ein Film zur Stunde ist. Ein Werk, das buchstäblich unter die Haut geht.
Bei bei den Filmfestspielen von Venedig, wo der Fil uraufgeführt wurde, gewann er den Queer Lion, weitere Auszeichnungen folgten auf Festivals in Paris und Sevilla. Umso seltsamer, dass er für den Deutschen Filmpreis nicht mal in die engere Auswahl kam.
Wagen sich die Schaads hier doch auf neues, unbekanntes Terrain, das keine Vor-Bilder hat. Mit einem kleinen, feinen Film, der viele große Räume auftut. Das ist hoch-intellektuelles Kino, das noch lange nachwirkt. Weil man hier nicht nur die Welt mal mit anderen Augen sieht, sondern im besten Film auch der Blick geöffnet wird, sich besser in die Haut eines Menschen zu versetzen, den man genau zu kennen glaubt.
Drama D 2022, 103 min., von Alex Schaad, mit Mala Emde, Jonas Dassler, Dimitrij Schaad, Maryam Zaree, Thomas Wodianka, Edgar Selge