Theater

Intendant René Pollesch eröffnet die Volksbühnen-Spielzeit

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Der Vorhang als Gefängnis: Margarita Breitkreiz auf der Projektionsfläche.

Der Vorhang als Gefängnis: Margarita Breitkreiz auf der Projektionsfläche.

Foto: Christian Thiel

Gut dosierte Nostalgie im Zirkus: „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“

Kaum ist man da, wird man beschimpft. „Ihr inkorporiert den gegenwärtigen Autoritarismus in reiner Form“, steht auf einem Flugblatt, das impfgegnerische Wirrköpfe am Rosa-Luxemburg-Platz verteilen. Auch sonst sorgen sie kurz vor Vorführungsbeginn für den Radau, den man von ihnen kennt. Sie entrollen ein Transparent mit der Aufschrift „Impft euch ins Knie!“, sie machen Lautsprecherdurchsagen und versuchen den Einlass zu verhindern, irgendwann kommt es zu einer kleinen Verfolgungsjagd mit der Polizei. Das Publikum steht amüsiert auf den Treppenstufen und sieht sich das alles an. Die Volksbühne ist zurück.

Eminem verbreitet die Botschaft

Und zwar, unter der neuen Intendanz von René Pollesch, mit einer guten Portion ironisch abgefederter Nostalgie. Darauf verweist schon das Zirkuszelt auf dem Vorplatz, das das Räuberrad in sich birgt – Bert Neumanns berühmtes Logo der Ära Frank Castorf, das dieser nach seinem erzwungenen Abgang 2017 demontieren und auseinanderflexen ließ und das wieder aufgestellt wurde, nachdem das Unglück der Intendanz Chris Dercons beendet worden war. Da hatte bereits Klaus Dörr das Ruder übernommen, der seinerseits im März 2021 nach MeToo-Vorwürfen seinen Rücktritt erklären musste. Nun also Pollesch, nicht nur Regisseur unter Castorf, sondern von 2001-2007 auch Leiter der Volksbühnen-Spielstätte im Prater. Eine Rückkehr als Neuanfang. Während die Gäste Platz nehmen, läuft Eminems „Without Me“ im Instrumental-Loop: Guess who’s back, denkt man sich automatisch dazu.

„Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ heißt dieser Abend, und die Zirkus-Metaphorik setzt sich im Bühnenbild munter fort. Links und rechts von der Bühne finden sich riesige Porträts zweier Artisten, bereit zur Anschmachtung durch Kathrin Angerer, Susanne Bredehöft, Margarita Breitkreiz und Martin Wuttke. Über dem ballonseidenhaft glänzenden, orangefarbenen Vorhang in großen Lettern und schön doppeldeutig der Schriftzug „Entrance“.

Ein stimmiges, kurzweiliges Ganzes

Federico Fellini kommt in den Sinn, vielleicht auch Kafkas Parabel „Auf der Galerie“ mitsamt der „hinfälligen, lungensüchtigen Kunstreiterin“ und dem „peitschenschwingenden, erbarmungslosen Chef“. Die Bezüge und Referenzen schillern wie immer bei Pollesch, hier ergeben sie ein ausgesprochen stimmiges, kurzweiliges Ganzes.

Der Vorhang spielt, wie vom Titel versprochen, tatsächlich die Hauptrolle. Bert Neumanns Sohn Leonard Neumann erweckt ihn in seinem ebenso schlichten wie genialen Bühnenbild mit Seilen aus dem Schnürboden zum Leben. Er kann tanzen, sich zur Qualle wölben, die zackige Charakteristik eines chinesischen Pavillons genauso einnehmen wie das Äußere eines Zirkuszeltes, er kann Wellen schlagen wie die Meeresoberfläche, die Schauspieler unter sich verschwinden lassen oder ein weißes Kaninchen hervorzaubern. Dann wieder lässt er sich schlaff fallen oder dient als Projektionsfläche für die riesigen Gesichter des schauspielenden Quartetts.

Es werden viele Themen angesprochen an diesem Abend, der keine lineare Geschichte erzählt, sondern Gedankenfiguren erprobt, assoziative Sprünge vollführt und Diskurse umkreist. So steht der Vorhang für einen Anfang, ohne dass überhaupt klar ist, was ein Anfang eigentlich ist, weil doch auch jeder Anfang ein Davor kennen muss – ein seit den Vorsokratikern verhandeltes Problem der abendländischen Philosophie, das hier in verschiedenen Volten wiederkehrt. Und was macht der Vorhang eigentlich in der Zeit, in der wir, das Publikum, ihn nicht sehen? Er ist ja nicht weg. Was heißt es für unser Verhältnis zur Wirklichkeit, dass wir ihn vergessen?

Das Skelett auf den Rücken geschnallt

Natürlich geht es auch um das Theater, um die Frage, was es will, kann und soll. „Sozialistische Schauspieler sind schwerer von einer Idee zu überzeugen“, zitiert sich Pollesch selbst, und Martin Wuttke darf in die Rolle eines gealterten Leo Tolstoi schlüpfen, den Margarita Breitkreiz und Kathrin Angerer als junge Revolutionäre besuchen. Es ist ja für sich genommen schon eine Freude, Kathrin Angerer nach all den Jahren wieder an der Volksbühne zu erleben. Und Wuttke schnallt sich immer mal wieder einen Rucksack mit Skelett auf den Rücken, während er von seinen Mitspielerinnen immer wieder am Rauchen gehindert wird. Das Altern und der Tod spielen mit in diesem großen Weltenzirkus, der sich auf die alten Stärken der Volksbühne besinnt, auf ihre ruppige Klugheit, ihre Freude an der Irritation, ihre Abwehrgesten gegenüber dem bürgerlichen Traditionstheater. Ein inspirierender Neuanfang ist das, nur anderthalb Stunden lang, mit wohldosierten Reminiszenzen und viel Humor. Die Volksbühne ist zurück.

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte. Wieder am 18. und 19. September