Berlin. Wegen des Teil-Lockdowns findet die Premiere von Sebastian Hartmanns „Zauberberg“ am Deutschen Theater erst mal nur im Internet statt.
Der derzeitige Teil-Lockdown hat sich ja lange abgezeichnet. Er sei langsam herangekrochen, meint Sebastian Hartmann. Es war im Grunde genau wie bei einer Erkrankung: Man hat erste Symptome schon wahrnehmen können, bevor die Diagnose klar war. Von daher war der Theaterregisseur auch darauf vorbereitet, als die Bühnen wieder schließen mussten – wo sie doch gerade erst wieder geöffnet hatten.
Hartmann, der derzeit am Deutschen Theater (DT) seine Bühnenbearbeitung von Thomas Manns Romanwälzer „Der Zauberberg“ probt, hat deshalb schon früh mit seinem Team diskutiert, wie man darauf reagieren solle. Und alle waren sich einig: „Wir wollen die Power in der Arbeit erhalten.“ Deshalb soll die Produktion nun, wie ursprünglich vorgesehen, am 20. November Premiere haben. Nur eben, alle Bühnen sind ja bis mindestens Ende November geschlossen, ohne Publikum im Saal. Sondern online, per Livestream auf der hauseigenen Website. Und das kostenlos. Das ist auch für das Deutsche Theater eine Premiere.
Einen virtuellen Spielplan mit Konserven darf es nicht geben
Dabei ist Hartmann alles andere als ein Freund von Theater im Stream. „Nullkommanull“, wie er betont. Ja mehr noch: Der 52-Jährige versucht mit seinen Produktionen immer wieder, die Grenze zum Zuschauerraum zu überschreiten. Vor leerem Saal zu spielen, ist da ein doppelter Graus. Aber immerhin: Im Gegensatz zum Lockdown im Frühjahr, als der gesamte Kulturbetrieb stillstand, darf jetzt immerhin geprobt werden.

Das ist auch ein Trost. „Ja, wir sind froh, dass wir arbeiten können, arbeiten dürfen – weil wir arbeiten wollen“, sagt Hartmann. Aber nur auf Halde proben und die Inszenierung dann erst mal auf Eis legen lassen, das könne auch „ein Nackenschlag“ sein. Dadurch würden Bühnen auch in einen „unendlichen Premierenstau“ geraten.
Nein: „Premieren müssen heiß rauskommen“, so Hartmann, „in der Zeit, in dem morphogenetischen Feld, in dem sie verhandelt werden.“ Vor allem müsse man auch den Zuschauern etwas bieten, die ja, das haben die letzten Wochen deutlich bewiesen, durchaus kommen und Theater schauen wollen. Und dass die Bühnen ab Dezember wieder öffnen werden, da macht sich Hartmann nichts vor: „Das wird sowieso nichts“. Sein „Zauberberg“ steht zwar ab 13. Dezember regulär auf dem Spielplan. Aber die Prognosen seien keineswegs optimistisch: „Möglicherweise kann man noch über Monate nicht Theater spielen“.
Der Live-Charakter bleibt gewahrt
Darum nun also die Online-Premiere. Die soll aber nicht einfach abgefilmtes Theater sein. Dass das Ganze aufgezeichnet, dass das Medium in Kauf genommen wird, soll in den Abend integriert werden. Und dann soll es auch ein einmaliges Event bleiben. „Theater muss man live spielen“, postuliert der Regisseur.
Man könne auch mal live übertragen, aber danach darf es nicht archiviert werden. „Einen virtuellen Spielplan mit lauter Konserven, das darf es nicht geben.“ Deshalb wird die Premiere live gestreamt. Vom ursprünglichen Plan, die Aufzeichnung 24 Stunden im Netz zu lassen, ist das Haus wieder abgerückt. Eine gute Entscheidung, findet Hartmann.

Der hat eigentlich gar keine Zeit für lange Erläuterungen, so kurz vor der Premiere. Man ist in den Endproben, die Schauspieler sind auch schon alle da und warten. Deshalb treffen wir uns im Café des Theaterhauses nur auf eine knappe halbe Stunde, die keineswegs überschritten werden darf. Aber dann wird Hartmann doch ausführlich. Man merkt, da hat sich auch Frust angestaut. Und Wut.
Er findet das „nicht richtig von der Politik“, dass die gesamte Kulturbranche wieder runtergefahren wurde. Und das man sich jetzt im Kontext von Spaßbädern und Bordellen wiederfinde. Aber jetzt nur „beleidigt in der Ecke stehen“ und an die Politik appellieren, fände er auch „langweilig“. Deshalb wollte er konstruktiv und kreativ reagieren.
Kulturschaffende sollten gleichwohl hinterfragen, warum sie auf diese Ebene von – er wiederholt das noch mal höhnisch – Spaßbädern und Bordellen gerutscht seien. Aber die Frage sei eine viel größere. Und die habe nicht nur mit Todesraten und möglichen Impfstoffen zu tun.
Hartmann holt da weit aus. „Der Mensch erlebt sich gerade an einer historischen Schwelle und muss sich selbst komplett hinterfragen. Das hat nichts mit meinem Auftrag als Theatermann zu tun, sondern mit der Frage, ob es uns in 100 Jahren überhaupt noch gibt.“

Bei solch fundamentalen Fragen ist es vielleicht nicht ganz einfach, sich auf die Inszenierung eines so ausschweifenden Romans wie von Thomas Mann zu fokussieren. Was aber macht das mit einem, wenn man in den Endproben steckt und weiß oder doch ahnt, dass man das wohl erst mal eine Weile lang nicht wird spielen können? „Eine ganze Menge“, gibt Hartmann zu. Dieses permanente Tauziehen, ob wieder ein Lockdown kommen werde, habe einerseits viel Energie gekostet, das Team andererseits aber auch zusammengeschweißt.
Erst wollte Hartmannn gar nicht
Die Idee, den „Zauberberg“ auf die Bühne zu bringen, kam von Ulrich Khuon, dem Intendanten des Deutschen Theaters. Hartmann arbeitet, seit er 2013 die Intendanz des Schauspiels Leipzig niedergelegt hat, als freier Regisseur. Und hat am Deutschen Theater auch schon „Lear“, „Ulysses“ oder „Berlin Alexanderplatz“ inszeniert. Seine erste Reaktion auf Khuons Offerte war eher reserviert. Er hat schon vor zehn Jahren in Leipzig einen „Zauberberg“ inszeniert. Als die Anfrage kam, dachte er spontan: „Ach Gott, Covid-19, Atemwegserkrankung, Lungenkrankheit, Zauberberg – ich bitte Euch!“ Sollte jetzt, argwöhnt er, die „Abenddämmerung in allen Häusern“ kommen, dass jeder sich fragt, was man zum Thema Corona machen kann?
Aber in der Auseinandersetzung mit dem Haus und dem erneuten Durchleuchten des Stoffs wurde Hartmann bald bewusst, dass die Vorlage weit mehr ist. Schon in Manns Roman dient das Lungensanatorium in Davos ja nur als Folie. Da käme jemand für drei Wochen, bleibe sieben Jahre, und in der Zwischenzeit bricht ein Krieg aus. Das war für den Regisseur viel interessanter.

„Dieser Idiot in den USA“, wie er sich ausdrückt, der sei ja nun endlich abgewählt. Aber das immer mehr „ungesteuerte Alphamännchen“ wieder mit Raketen spielen, dass überlastete Gesellschaften, die ihre Probleme nicht mehr in den Griff bekämen, lieber einen Krieg entfachen, das sei ein historischer Fakt. Das könne man vom Ersten Weltkrieg über den Holocaust bis in jüngste Konflikte verfolgen. „Der Zauberberg“ handele also von viel mehr als nur Atemwegserkrankungen.
Mit seiner ersten „Zauberberg“-Inszenierung 2010 in Leipzig habe die neue nichts mehr zu tun. Seine Arbeitsweise habe sich seither sehr verändert: „Ich verbeiße mich jetzt ganz anders in Stoffe und halte mich nicht mehr im Narrativen auf.“ Man darf also gespannt sein, was dabei herauskommt. Und wie der Moment des Filmens für den Stream dabei integriert wird.
In der Krise könnte eine neue Kunstform entstehen
Ist diese Streaming-Premiere jetzt eine Pioniertat? Werden andere Häuser mit ähnlichen Events nachziehen? Hartmann kann sich das durchaus vorstellen. Und hält das auch für notwendig: wenn man nicht in einem kompletten Lockdown stehe, müsse man mit der Situation auch etwas machen. Gleichwohl hält er die Diskussion für gefährlich: „Weil Theater analog ist und bleiben muss.“
Die Stücke dürften keineswegs nur abgefilmt werden. Aber es hätte durchaus seinen Reiz, wenn aus der Not eine andere Reflexionsebene, eine neue Kunstform entstehen würde. Ein „Zwischenmedium“, wie Hartmann es bezeichnet. Dann hätte man nicht „diese leidige Diskussion über Theater und Netz, die mir seit Jahren auf den Kranz geht.“ Aber dann hätte die Krise womöglich etwas Neues geschaffen. Und gerade in einer Ausnahmesituation wie der aktuellen sei es ganz wichtig, dass das Theater seine gesellschaftliche Funktion weiterhin erfüllen kann.
Premiere „Der Zauberberg“ am Deutschen Theater als Livestream: 20. November, 19.30 Uhr auf www.deutschestheater.de