Berlin. Seit seinem – unfreiwilligen – Abgang von der Volksbühne hat Frank Castorf im Berliner Ensemble eine neue Heimat gefunden. Der Regisseur genießt aber auch das Inszenieren in anderen Städten und Ländern. Mit 68 darf er nun noch ein spätes Debüt feiern: Castorf inszeniert zwar schon seit 20 Jahren immer mal wieder auch Opern, in Bayreuth durfte er 2013 zu Wagners 200. Geburtstag sogar den ganzen „Ring“ inszenieren. Aber noch nie hat er eine Oper in Berlin inszeniert. Am Sonntag hat Verdis „Die Macht des Schicksals“ in der Deutschen Oper unter seiner Regie Premiere. Wir haben den Theatermann in einer Probenpause gesprochen.
Berliner Morgenpost: Herr Castorf, Sie inszenieren schon seit 20 Jahren Opern. Aber noch nie zuvor haben Sie das in Berlin getan. Warum eigentlich nicht? Hat Sie keiner gefragt? Hat sich keiner getraut?
Frank Castorf: Doch, es gab schon Anfragen. Auch von der Staatsoper und der Komischen Oper. Ich mag es eigentlich, dass man in einer Stadt einen bestimmten Ort hat und nicht so wechselt. Früher hatte ich zweifellos eine größere Nähe zum Schauspiel. Das hat sich aber verändert. Jetzt bin ich mal in München, mal in Hamburg, mal am Theater, mal an der Oper. Jetzt macht der Wechsel mehr Spaß als die Monochronie.
Werden Sie im Alter noch zu so etwas wie einem fahrenden Gesellen?
Ich bin ja jetzt Rentner und genieße es, mir die Welt anzuschauen. Am Montag, gleich nach der Premiere, geht es nach Bogotá, danach arbeite ich in Paris und Lausanne. Vor 25, 30 Jahren habe ich in München „Miss Sara Sampson“ inszeniert, das ging auf große Gastspielreise durch Südamerika. Der Intendant fragte mich damals, ob ich nicht mitkommen möchte. Ich habe an Kant gedacht, der sein Königsberg nie verlassen hat, und kühn gesagt: Ich habe die Welt in meinem Kopf, ich muss sie nicht erleben. Ich bin dann doch mit und habe festgestellt, dass das eine fromme Lebenslüge war. Dann war ich an der Volksbühne lange wieder an einem festen Ort. Und genieße es jetzt, viel unterwegs zu sein.
Und warum diese zunehmende Hinwendung zur Oper?
Ich sehe heute viel Gleichmacherisches am Theater. Alle wollen das Gemeinsame, das Gutmenschentum. Ich bin da sehr skeptisch. Das war ich ja immer, schon in der DDR. Für mich gehört eine gewisse Bösartigkeit dazu. Ich liebe diesen Beruf. Aber ich habe gerade meine Freundin Valery Tscheplanowa getroffen, eine Ausnahmeschauspielerin, die enttäuscht ist von dem, was sich im Theater gerade abspielt, wo man nur noch reproduziert. Da macht sie lieber Filme. Oder spielt halt bei mir. Ich will nicht nur Inhalte austauschen und Aufforderungen zum richtigeren Leben stellen. Heiner Müller sagte mal, der Krieg ist das letzte Refugium des Humanen. Für mich ist Musik das letzte Refugium der wirklichen Kunst. Das macht mir im Augenblick mehr Spaß. Das ist aber auch ein Alterungsprozess. Dass einen das, was unabhängig und außerhalb von einem existiert, plötzlich mehr interessiert. Wo man dachte: Das wirst du in deinem Leben nicht können.
Sie gehen nicht oft ins Theater, weil Ihnen das zu lang dauert. Wie ist es mit Opern?
Auch nicht. Ich nehme alles rein selektiv wahr, auch Filme, auch Museen. Ich kann das nicht, alles permanent rezipieren, dieses ständige Schnell-Schnell. Durch die Selektion bleibt bei mir aber viel mehr haften. Wenn ich was schaue, egal was, bin ich in der Lage, die Gestalt wahrzunehmen. Und in einer anderen Form wiederauferstehen zu lassen.
Wieso haben Sie für Ihr spätes Berliner Opern-Debüt ausgerechnet „Die Macht des Schicksals“ gewählt. Ist der Titel Programm?
(mit feinem Lächeln): Ich bin ja ein Service-Unternehmen! Das heißt: Ich bekomme einen Auftrag und nehme ihn an. Und ich bin froh darüber. Denn ich bekomme es bezahlt, und die Vorgedanken müssen sich andere machen. Sehen Sie, ich war selber Intendant, da musste man immer Strategien planen. Jetzt bin ich in dem glücklichen Zustand, dass ich nur noch einzelne Projekte annehme und mir darum keinen Kopf mehr machen muss.
Sie kokettieren. Hätte ja sein können, dass Sie gerade mit dieser Oper gar nichts anfangen können.
Aber das ist bei mir immer so: Alles, was man erst mal nicht leiden kann, wird man später lieben. Ich bin ja ein Querulant. Wenn jemand schwarz sagt, muss ich es weiß haben – immer das Gegenteil. Es ist ganz spannend, dass man das, was man erst nicht mag, verstehen lernt, dass man erkennt, dass daran was Besonderes ist. Dass war bei Wagner und dem „Ring“ auch so.
Glauben Sie denn persönlich an Schicksal?
Ja, unbedingt. Ich glaube nicht an diese puritanisch-protestantische Rechtschaffenheit, was in unserer nördlichen Welt ja überall vorhanden ist. Dieses sauertöpfische Denken, dass alles gut wird, wenn wir nur redlich sind und jeden Tag Rechtschaffenheit vor Gott durch Arbeit abliefern. Nein, das ist gar nicht meins. Von daher ist die Wahl dieser Oper natürlich doch nicht zufällig. Die Welt ist schwer zu beherrschen. Das ist etwas, das man auch in den deutschen Regierungen lernen sollte: dass wir uns viel mehr auf Welt einzustellen haben. Ich bin da von jeher skeptisch, das muss ich auch sein, wenn ich was Kunstähnliches mache. Das lasse ich mir auch nicht verbieten. Weil es um Meinungsfreiheit geht. Da muss man auch viel sagen können. Die Kunstfreiheit habe ich mir schon in der DDR nicht wegnehmen lassen, und es war auch nicht erst 1989 die Heldenstadt Leipzig, die mir Mut gemacht hat. Das war schon vorher so, als mich noch Verbote ereilt haben. Ich habe nie Angst entwickelt. Die werde ich mir in meinem hohen Alter auch nicht mehr aneignen.
Ein Schicksalsschlag war Ihr erzwungenes Ende bei der Volksbühne. Sie sind im Zorn gegangen. Tut das noch weh, oder haben Sie das inzwischen verwunden?
Nein. Das tut nicht mehr weh. Ich kann auch verstehen, dass man irgendwann sagt, jetzt muss etwas Außergewöhnliches, Weltumspannendes wie ein Chris Dercon kommen. Das kann man machen. Darüber habe ich auch nie ein Wort verloren. Ich fand, 25 Jahre war ein schöner Zeitpunkt. 24 Jahre, das wäre doof gewesen. 26 wäre auch wieder doof gewesen. Aber 25 war ein gutes Jubiläum. Und ich habe mich so angestrengt, alle Kräfte dieses immensen Apparates gegen die Macht der Gewohnheit und auch gegen diesen Fatalismus, diese Ist-bald-alles-vorbei-Stimmung zu mobilisieren. Wir haben noch mal einen „Faust“ gestemmt und sind mit unserem Rad nach Avignon gefahren. Wir haben in einer permanenten Überforderung gelebt. Da war man im August 2017 froh, dass man das geschafft hat. Und nie wieder etwas davon hören muss. Das ist mir wichtig.
Nachdem Dercon hingeworfen hat, soll nun ab 2021 René Pollesch, Ihr langjähriger Mitstreiter an der Volksbühne, das Haus leiten. Wie stehen Sie zu dieser Personalie?
Ich wünsche dem René alles Gute, wirklich, er ist ja ein intelligenter und freundlicher Mensch. Aber er möge doch bitte an Liz Taylor und Richard Burton denken. Die haben auch zwei mal geheiratet. Muss man wirklich zwei Mal denselben Fehler machen?
Wenn Pollesch Sie noch mal einladen würde, würden Sie seinem Ruf nicht folgen?
Nein. Nie. Das war eine Zeit. Die kann man nicht toppen. Und das sollte man auch nicht versuchen. An der Volksbühne ist alles, ich mag mich irren, recht mittelmäßig geworden. Da bin ich lieber hier. Die Bismarkstraße mit dem Schiller Theater und der Deutschen Oper, das ist mir eine völlig fremde Welt. Aber das Fremde kennenzulernen, stimuliert ja. Und bitte, hier gab es 1968 beim Schah-Besuch die Straßenkrawalle. Auch der Widerstand war schön in dieser Stadt. Insofern bin ich gern hier.
Dann toi toi toi für Ihr spätes Debüt. Ist man nach all den Jahren eigentlich noch nervös vor einer Premiere?
Ach, irgendwie nimmt es einen schon mehr mit, als man es möchte. So muss es aber auch sein. Es gab für mich nichts Schöneres als diese Arbeit mit Kirill Petrenko in Bayreuth. Sie können sich nicht vorstellen, wie das war, diese 15 Minuten von Bravos und Buhs. Diese Erregung von älteren Menschen, wo man schon dachte: Passt auf, dass ihr keinen Herzinfarkt bekommt. Die mussten sich schon setzen aus Erschöpfung, aber die wollten nicht, dass die Bravos siegten, und sind wieder aufgestanden. Ich genieße das. Das ist doch ein Austausch, den wir heute kaum noch haben! Und welche Freiheit, das Recht auf eine andere Meinung zu haben. Das habe ich in einem totalitären System wie der DDR gelernt, sich nie einzugemeinden in die große Übereinstimmung. Nö.