Berlin. Sie ist selber schuld. Mehrfach wollten wir uns zum Spazieren treffen, schon im Herbst, als der noch ein Sommer war. Aber immer kam etwas dazwischen. Nun klappt es doch noch. Aber just an diesem Tag ist es schrecklich kalt, und schlimmer noch, es bläst ein eisiger Wind. Deshalb kommt Katharine Mehrling dick eingemummelt, mit Poncho unter der Jacke und einer Mütze unterm Hut. Sie hat noch schnell ein Paar Handschuhe gekauft, die verliert sie gern, immer nur einen. „30 Grad, das ist meine Temperatur“, stöhnt sie gleich zur Begrüßung. Und reibt sich schlotternd die Hände.
Dennoch geht es erst mal aufs Dach. Treffpunkt ist die Komische Oper, eine der Wirkstätten, wo die kleine Frau mit der großen Stimme Triumphe feiert. Das sei der Kiez, der sie „inspiriert“, durch den wollen wir flanieren. Doch erst mal, das hat sie sich gewünscht, will sie die Aussicht von oben genießen. Das Haus macht mit, ein Techniker führt uns ins oberste Stockwerk, wo wir auf eine steile Ausziehleiter klettern und dann durch eine kleine Luke, durch die der Hausangestellte schon nicht mehr passt, aufs Dach gelangen. Hier pfeift der Wind noch unerbittlicher, aber die Aussicht über den Dächern, mit dem Brandenburger Tor hier und dem Fernsehturm da, ist wirklich spektakulär.
Hier zeigt Katharine Mehrling schon mal, wo sie gleich spazieren möchte. Dann zieht die 44-Jährige tapfer die Jacke aus und lässt für den Fotografen den Poncho im Wind flattern. Der Moment meint es gut mit ihr. Just da bricht die Sonne durch die Wolken, beleuchtet den Star wie ein Spot. Und wärmen tut sie auch. Danach aber mummelt sich die Sängerin gleich wieder ein, fürchtet, einen der neuen Handschuhe wieder verloren zu haben, findet ihn aber doch. Wieder unten angekommen, ziehen wir Richtung Gendarmenmarkt.
Zum Jahreswechsel ist sie gleich doppelt gefordert
Gibt es noch jemanden, der Katharine Mehrling nicht kennen sollte? Die Frau ist ein Multitalent. Sie kann grandios singen, hat Gold in der Kehle und ein unverwechselbares Klangtimbre. Sie spielt auf Bühnen wie dem Renaissance- und dem Schlossparktheater. Brilliert an der Komischen Oper in Musicals und Operetten. Hat auch Alben aufgenommen, an einem neuen arbeitet sie gerade.
2018 war irgendwie ihr Jahr. Im TV-Film „Liebe auf den ersten Tick“ war sie neben Veronica Ferres und Dieter Hallervorden zu sehen. In der Bar Jeder Vernunft spielte sie ihr neues Programm „Vive la vie“. Und dazwischen ging ein lang gehegter Traum in Erfüllung, sie hat ihre ersten Konzerte in New York gegeben. Ein Erlebnis, das sie auch gleich in ihrem Bar-Programm verarbeitet hat.
Zum Jahreswechsel ist sie nun doppelt gefordert. Am 31. Dezember bestreitet sie die Silvestergala im Tipi am Kanzleramt. Da muss sie ganz schön aufdrehen, schwant ihr, um gegen den Krach vom nahen Brandenburger Tor anzukommen. Am Nachmittag darauf moderiert sie in der Komischen Oper das Neujahrskonzert „Dance!“. An großes Feiern in der Nacht ist also nicht zu denken, aber die Böllerei mag sie sowieso nicht.
An der Behrenstraße geht es dann auch im neuen Jahr nahtlos weiter. Ab 6. Januar tritt sie dort wieder als Eliza Doolittle in „My Fair Lady“ auf, im März kommt „Ball im Savoy“ zurück. Und am 12. Januar wird ihr auf dieser Bühne der Goldene Vorhang verliehen. Bereits zum fünften Mal geht der Preis des Berliner Theaterpublikums an sie, und erstmals nicht mehr für eine bestimmte Produktion, sondern fürs gesamte Schaffen der letzten Spielzeit. Besser könnte ein neues Jahr eigentlich nicht starten.
Den Gendarmenmarkt kennt sie wie ihre Westentasche. Hier ist sie auch schon häufig aufgetreten, im Sommer, bei ihren Temperaturen, beim Classic Open Air. So kurz vor Mittag ist hier kaum was los, mühelos kommen wir zwischen den Weihnachtsbuden durch. Überall dudeln Weihnachtslieder. Als Ella Fitzgerald aus einer Musikbox schallt, singt Katharine Mehrling spontan mit und zieht damit das Interesse der Passanten auf sich. Dann genehmigen wir uns erst mal einen Glühwein, zum Aufwärmen. Dabei hat Mehrling Schwierigkeiten mit Weihnachten, seit ihre Mutter 2001 zwei Tage vor Heiligabend gestorben ist. Was sie dennoch mag, ist die Besinnlichkeit dieser Tage. „Es passiert derzeit so viel auf der Welt, da kommt meine Seele gar nicht mit“, meint sie. Da ist es gut, wenn es einmal ruhiger wird.
Und was sie nach wie vor liebt an Weihnachten, ist: essen. Als Vegetarierin verzichtet sie zwar auf die Gans. Aber Klöße! Plätzchen!! Lebkuchen!!! Sie sagt das, als setze sie hinter jedes Wort ein Ausrufezeichen mehr. „Nur: Das darf ich diesmal ja alles gar nicht“, setzt sie seufzend nach. Sie muss ja für die Jahreswechsel-Galas ins Kostüm passen.
Wir wandern weiter durch diesen Kiez, der sie inspiriert. Sie hat keine feste Route geplant, wir laufen vielmehr kreuz und quer. So ist sie immer, sie folgt spontan ihren Impulsen. Und steuert als Nächstes das Westin Grand Hotel an. Schon, damit wir uns gleich noch mal aufwärmen können. Der Glühwein hat nicht gereicht. Aber auch, weil es da in der Lobby diese Riesentreppe gibt, eigentlich eine Showtreppe, wie in einer Fernsehgala. Das ist ganz klar etwas, was Katharine Mehrling auch mal erleben möchte. Im Westin Grand sitzt sie aber auch sonst oft. Schon wegen der gemütlichen Sofas. Erst gestern hatte sie hier ein Meeting. Und dann hat sie hier das erste Mal Charles Dumont getroffen, den Komponisten von Edith Piaf, als sie vor drei Jahren mit großem Orchester ihren Piaf-Abend zu deren 100. Geburtstag in der Komischen Oper gab.
Auf dem Sofa bestellt sie eine Kanne Ingwertee, die sie genüsslich vor sich dampfen lässt. Während sie die dazu gereichten Kekse, das Kostüm muss ja passen, weit wegschiebt. Hier, jenseits des Trubels auf der Straße, gehen wir in aller Ruhe die Stationen ihrer Karriere durch. Die kennt jeder, der schon mal eins ihrer Programme verfolgt hat. Weil sie da immer darauf zurückkommt. Auf ihre Mutter Grit von Osthe etwa, die in den 60er-Jahren mit ihrem Vater eine Musikbar betrieb und auch gesungen hat. Verruchte Chansons mit mutigen Texten, von denen sie auch Platten aufnahm. Aber das passte nicht in die Zeit. Deshalb wurde sie verkannt. Vielleicht hatte die Mutter auch nicht genug Selbstbewusstsein, um sich gegen den bornierten Zeitgeist durchzusetzen. „Aber wenn sie sang“, so die Tochter, „dann ging die Sonne auf.“
Das Gen wurde ihr vererbt. Schon als Dreijährige sang die kleine Katharine in der Badewanne. Die Eltern überredeten sie, in ihrer Bar zu singen. Aber angeguckt werden, das wollte sie nicht. Sie stand dann hinterm Tresen und sang versteckt. Auf der Bühne zu stehen, das kam erst später. Auftritt Ralph Siegel. Die Eltern hatten dem Schlagerkomponisten ohne ihr Wissen ein Demotape von ihr zugeschickt. Siegel nahm sie sofort unter Vertrag, da war sie gerade 14, nahm ein englischsprachiges Album mit ihr auf. Schickte sie zum Vorentscheid zum Grand Prix. Das war eine wichtige und aufregende Erfahrung, erinnert sich Mehrling, „aber ich wusste, das ist nicht meine Welt.“ Pop- oder Schlagerstar, das wollte sie nicht werden.
Die Künstlerin liebt es, sich in allem auszuprobieren
Was aber wollte sie dann? Es gab drei Optionen, wie sie grinsend aufzählt: „Ich wollte Sängerin, Prinzessin oder Stewardess werden.“ Das mit der Stewardess hat sie versucht, der Drang in die Ferne war immer in ihr, sie wollte raus aus ihrem kleinen Dorf. Aber während sie bei TWA gearbeitet hat, ging die Fluggesellschaft pleite. Es gebe da keinen Kausalzusammenhang, aber sie hätte da „wirklich Chaos ausgelöst“. Gepäckstücke landeten wegen ihr in falschen Städten, sie hat auch erhebliche Flugverspätungen verursacht. Den Ferndrang hat sie dann anders ausgelebt. Durch die Fluggesellschaft kam sie günstig nach London. Dort wollte sie Schauspiel studieren. Auf der Schule traf sie eine Putzfrau, die ihr ein Zimmer in der britischen Hauptstadt vermietete. Auf dem Weg dahin aber lief sie an einer Musicalschule vorbei. Und beschloss, es lieber dort zu versuchen. So ist sie, immer spontan Impulsen folgen. Während des Studiums gab es eine Audition für „Hair“ am West End, sie wurde unter 2000 Bewerberinnen ausgewählt, spielte bald als einzige Deutsche am Broadway von London. Von da an war die Bühne ihr Zuhause, haderte sie nicht mehr mit dem Rampenlicht. „Hätte ich damals beim Grand- Prix-Vorentscheid gewonnen, hätte mir das nicht gutgetan“, bilanziert sie heute. Das wäre zu schnell gegangen.
Als sie zurück nach Deutschland kam, musste sie wieder ganz von vorn anfangen, musste die Ochsentour durch die Provinz machen. Es gibt ein hübsch- ironisches Lied von ihr, das diese Zeit aufgreift: „Ich bin ein Star – in Castrop-Rauxel. Mich kennt die ganze Welt – in Bielefeld.“ Das stimmt längst nicht mehr. Sie hat sich nach und nach so ziemlich jede Bühne in Berlin erspielt, hat sich in allen Genres bewährt: Chanson, Jazz, Theater, Operette, Musical. Und auch im Film: In „Operation Walküre“ mit Tom Cruise sang sie als Bardame. Eine Frau für alle Fälle. Dass sie 2017 in Wien als „Evita“ von der Kritik nicht angenommen wurde, war ein empfindlicher Dämpfer. Aber dann kam die Einladung nach New York. Da sollte sie schon letztes Jahr auftreten, sie hatte aber den bürokratischen Akt unterschätzt, der mit einem Arbeitsvisum verbunden ist. Im zweiten Anlauf hat sie es geschafft. Zwei Abende im Big Apple, im Deutschen Generalkonsulat und im legendären Joe’s Pub im Public Theatre. Und wie sang schon Frank Sinatra? „If I can make it there / I’ll make it anywhere.“
Der Tee ist längst ausgetrunken, wir sind schon weitergezogen. Aber es ist immer noch so kalt, dass wir nur bis zum Kulturkaufhaus Dussmann kommen. Zielstrebig geht die zierliche Person auf die Schallplattenabteilung zu.
Seit Kurzem hat sie wieder einen Plattenspieler. Ein Freund aus Argentinien hat ihr den geschenkt – zusammen mit einer Platte ihrer Mutter, die er im Internet aufgetrieben hat und die sie noch nicht hatte. Seither ist sie im Vinyl-Rausch, liebt auch diesen haptischen Moment, die Scheibe aus der Hülle zu nehmen, das knisternde Geräusch, wenn der Diamant auf die Platte aufsetzt. Jetzt blättert sie sich durch ihre Göttinnen, Ella Fitzgerald und Nina Simone, kann sich bei Letzterer nicht zwischen „Litte Girl Blue“ und „I Put A Spell On You“ entscheiden. Und kauft beherzt beide. Stimmt einen der Songs an. Und wieder blicken ein paar Kunden interessiert auf.
Erkannt wird sie aber, selbst wenn ein Journalist mit Aufzeichnungsgerät neben ihr herläuft, nicht. Das genießt sie. Als Star fühlt sie sich ohnehin nicht. Es gebe so viele Nischen und Parallelwelten, gerade in Berlin. Und sie liebt es, sich in allem auszuprobieren. Auch wenn sie weiß, dass Vielseitigkeit auch irritiert. Weil man einen dann nicht gleich in eine Schublade stecken kann.
Inzwischen sind wir die Friedrichstraße entlangspaziert, zur Weidendammer Brücke. Hier, an der Friedrichstraße 104, stand einmal die alte Komische Oper. Da schließt sich dann, trotz allen Zickzacks, doch ein Kreis, von der heutigen zur ehemaligen Komischen Oper. Eine letzte Frage sei noch erlaubt: Was wünscht sich Katharine Mehrling fürs neue Jahr? Auch da ist sie wieder ganz bodenständig. „Eigentlich nur, dass alles so gut weiterläuft.“
Zur Person:
Anfänge: Katharine Mehrling, 1974 in Hanau geboren und in Ostheim aufgewachsen, studierte Schauspiel und Musical am London Studio Centre und am Lee Strasberg Institute in New York. 1993 wurde sie noch während ihrer Ausbildung für das Musical „Hair“ im Old Vic Theatre in London engagiert. 1995 gewann sie den Preis des Deutschen Bühnenvereins.
Karriere: Sie spielte an diversen Bühnen die Sally Bowles in „Cabaret“, die Eva Peron in „Evita“, die Polly in der „Dreigroschenoper“ und Irma in „Irma la Douce“. Das Musical „The Birds of Alfred Hitchcock“ wurde eigens für sie geschrieben. Gleich drei Mal verkörperte sie ihr großes Idol Edith Piaf auf der Bühne. Daneben gibt sie auch Konzertprogramme mit Chansons, Jazz und eigenen Liedern. Seit Jüngstem feiert sie Triumphe an der Komischen Oper. Dort wird ihr am 12. Januar zum 5. Mal der Goldene Vorhang verliehen. Die Laudatio hält Barry Kosky.
Der Spaziergang: Treffpunkt war die Komische Oper. Dort ging es erst mal aufs Dach, danach auf den Gendarmenmarkt. Von da aus spazierten wir in weitem Bogen zum Westin Grand Hotel auf eine Kanne Tee. Weiter ging es die Friedrichstraße herunter, mit einem Abstecher ins Kulturkaufhaus Dussmann. Endpunkt war die Weidendammer Brücke, wo einst die alte Komische Oper stand.