Berlin. Ihr ist anzumerken, dass sie richtig Lust auf einen Spaziergang hat. Obendrein hat Andrea Zietzschmann einen Plan. Kurz gefasst könnte man den umschreiben mit Kultur und Natur. Beides, wie es sich im Gespräch herausstellen wird, prägt ihr Leben. Das mit der Kultur könnte sie auch kaum verheimlichen: Seit gut einem Jahr ist Andrea Zietzschmann Intendantin der Stiftung Berliner Philharmoniker. Was eines der nobelsten Ämter in der Berliner Kultur und weit darüber hinaus ist. „Es herrscht gerade eine lebendige Aufbruchstimmung“, sagt sie über ihren Berufsalltag: „Kirill Petrenko kommt in einem Jahr, eine neue Ära beginnt. Für mich ist es eine tolle Zeit, weil man das Gefühl hat, alle schauen gemeinsam nach vorne.“ Auch wir tun das: Unser Spaziergang beginnt an der Philharmonie mit dem Fototermin. Geduldig ist sie dabei, zweifellos. Und offen im Umgang.
Zuerst möchte sie einen Abstecher hinüber zur St.-Matthäus-Kirche machen. Die 1846 eingeweihte Kirche nach Plänen des hohen preußischen Baubeamten Friedrich August Stüler sollte knapp ein Jahrhundert später der Ort sein, an dem Nazi-Widerständler Dietrich Bonhoeffer zum Pfarrer ordiniert wurde. Heute ruht die Kirche als einziger historischer Bau mitten im Kulturforum. Die Intendantin möchte einmal auf den Turm hinaufsteigen, der einen Rundblick verspricht. Tatsächlich hat man einen wunderbaren Ausblick auf alle Baustellen. Das Thema Religion streifen wir beiläufig. „Ich bin protestantisch erzogen worden“, sagt Andrea Zietzschmann: „Die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen und geistigen Themen beschäftigen mich schon.“
Der Weg zurück zur „goldenen“ Philharmonie führt über eine Brache hinweg. Vor unserem geistigen Auge ersteht dort das Museum der Moderne. Spötter bezeichnen das geplante Museum für Kunst des 20. Jahrhunderts als bessere Scheune. Die Philharmoniker-Intendantin kennt sich bestens mit den Planungen aus. Die Belebung des Kulturforums wird auch eines der wichtigen Themen ihrer Amtszeit sein. Unser Blick fällt auf den kleinen Imbissstand am Rande. Wir fragen uns, was aus dem wohl wird? Wenn das Museum 2021 eröffnet werden sollte.
Die Mittagspause macht sie gerne auf einer Parkbank
Gepflegte Gastronomie ist ein leidvolles Thema rund um die Philharmonie. Man muss erst hinüber zum Potsdamer Platz laufen und sich unter Touristen mischen. Wo macht sie ihre Mittagspause? In der Kantine? Andrea Zietzschmann überlegt kurz und erzählt, sie würde sich gerne mittags im Tiergarten auf eine Parkbank setzen. Es gibt eine ganz bestimmte. Spontan entschließen wir uns, zu ihrer Parkbank zu gehen.
Der Tiergarten ist ein kleines Paradies, wobei unkundige Besucher immer wieder fragen, warum man in einem Tiergarten auf so wenig Tiere trifft. Auf Parkbänke übrigens auch. Wir laufen einen Parkweg hinunter und sprechen über Schwenningen am Neckar, wo Andrea Zietzschmann 1970 geboren wurde. Die Mutter Ärztin, der Vater Betriebswirt und ein guter Klavierspieler, die Großmutter Opernsängerin. Sie spricht über ihre Liebe zur Natur, über die Spaziergänge, die sie zwischendurch brauche. Wir sprechen über Venezuela, wo sie als Kind häufig hinflog, weil ein Teil ihrer Familie ausgewandert war. Sie war und ist viel auf Reisen. Sie hat etwas Weltläufiges, was sie aber so gar nicht vor sich herträgt. Andrea Zietzschmann ist eine rundum uneitle Intendantin.
Um zu unserer Parkbank zu gelangen, wollen wir abbiegen und stoßen plötzlich auf Absperrgitter. Kurz zuvor fand am Brandenburger Tor ein Großereignis statt. Wir wählen einen kleinen Umweg. Wir kommen auf Claudio Abbado zu sprechen. Der frühere Chefdirigent der Philharmoniker hatte sie 1996 gefragt, ob sie nicht mit ihm ein neues Orchester gründen und als Intendantin leiten wolle: das Mahler Chamber Orchestra. „Er hatte eine Mentorenrolle für mich, auch wenn wir gar nicht so viel im Dialog waren“, sagt Andrea Zietzschmann: „Das Sprechen war ja nicht seine ausgeprägte Leidenschaft.“ Wichtig war für sie das Gefühl, ernst genommen zu werden. „In der Retrospektive wird Claudio Abbado heute idealisiert. Ich habe ihn in allen Facetten kennengelernt. Er war manchmal auch unbequem im Umgang.“ So konnte er rigoros sein, wenn es um Musiker im Jugendorchester ging, die er nicht so schätzte und umbesetzte. „Da hat er mich kommunikativ vorgeschickt, und ich habe schwierige Erfahrungen gemacht.“ Zu ihren Erinnerungen gehören auch Abbados politische Vorlieben. „Auf der Tournee nach Kuba haben wir ihn als idealistischen Romantiker kennengelernt. Wir sahen auf der Straße, welche Probleme das Land inzwischen hatte. Da haben wir über seinen links geprägten Glauben an das System schon fast gestaunt.“
Absperrgitter überall. Wir stehen etwas ratlos auf der Straße des 17. Juni und wenden uns in Richtung Reichstagsgebäude. Wie politisch man als Philharmoniker-Intendantin ist, will ich wissen. „Ich habe keine politische Funktion“, betont Andrea Zietzschmann, „man wird auch nicht über Parteibuch eingesetzt. Deswegen, glaube ich, geht der Begriff politisch in die falsche Richtung.“ Aber man müsse gesellschaftskritisch unterwegs sein, fügt sie hinzu. „Es gehört zu meiner Position, dass ich weiß, was in der Politik, in der Welt gerade los ist, welche Themen relevant sind. Dass man eine Haltung hat und reagieren kann, wenn es gefordert ist.“
Ihre ersten Erfahrungen als Intendantin im Berlin der 90er-Jahre waren mühsam. Als junge Chefin des Mahler Chamber Orchestras war ihre Wohnung gleichzeitig das Büro. „Es herrschte das Gefühl, man kommt nach Hause und findet einen Kilometer Faxnachrichten vor. Wir hatten damals noch so ein billiges Faxgerät, die Hälfte auf dem Papier konnte man nicht richtig lesen“, erinnert sie sich: „Ich hatte kein richtiges Rückzugsgebiet.“ Vielleicht sei da fast zu viel Idealismus im Spiel gewesen. „Unser erstes Büro war dann ein acht Quadratmeter großes, heruntergekommenes Zimmer in einer Fabriketage im Prenzlauer Berg. Es war ein schönes Gefühl, einen Teppich auszurollen und einen Schreibtisch draufzustellen und zu wissen: Da ist jetzt das Büro.“
Der Freundeskreis besteht natürlich aus vielen Künstlern
Wobei sie zugibt, dass sie in ihrem Leben Privates und Büro nie wirklich getrennt habe. „Es waren immer fließende Wellen. Dazu gehört auch der Freundeskreis, der aus vielen Künstlern besteht. Zu meinem Leben gehört die Leidenschaft für die Musik, die Kunst.“ Und was Privatheit betrifft, wissen wir, ist die längst eine digitale Frage. „Heutzutage schreiben viele ihre Nachrichten über WhatsApp oder schicken eine SMS. Auch über Facebook kontaktieren mich viele Künstler“, sagt die Intendantin: „Meine Privatnummer hat keiner.“
Inzwischen drängen wir uns an fotografierenden Touristen am Brandenburger Tor vorbei und schöpfen etwas Hoffnung, der Parkbank wieder näher zu kommen. Unser Gespräch dreht sich um Frankfurt am Main, wo sie Musikchefin beim Hessischen Rundfunk war, und um Hamburg, wo sie zuletzt die vier NDR-Klangkörper managte. In ihre Amtszeit fiel auch die Eröffnung der Elbphilharmonie, wo jetzt das NDR Elbphilharmonie Orchester residiert.
„Die erste Probe in der Elbphilharmonie werde ich nie vergessen“, sagt sie: „Wir haben jahrelang darauf hingearbeitet. Es war ein Moment großer Spannung, auch von Furcht. Die ersten Töne waren dann erhebend. Es war eine Stimmung, als könnten wir jetzt die ganze Welt verändern. Es war auch der Monat, in dem ich wusste, dass ich nach Berlin gehen würde, aber die Musiker wussten das noch nicht. Die Situation war für mich sehr ambivalent.“
Gegenüber ihren vorherigen Orchestern, sagt Andrea Zietzschmann, merke sie jetzt, welch große Verantwortung die Philharmoniker haben. Alle würden auf die Programme der Philharmoniker schauen, auf die eingeladenen Dirigenten und Solisten, auf die gespielten Werke. „Alle Aktivitäten werden beobachtet: Das ist mir noch mal sehr bewusst geworden in meinem ersten Jahr als Intendantin. Mariss Jansons sagte, als wir ihm die Ehrenmitgliedschaft übergaben: ,Ihr seid die Lokomotive des Klassikbetriebs, alle schauen auf euch.‘“
Kirill Petrenko, der als designierter Lokführer Simon Rattle folgen wird, will ein Markenzeichen der Philharmoniker fortführen. „Kirill Petrenko hat immer wieder betont, dass ihm das Education-Programm wichtig ist und er sich selbst einbringen will.“ Wobei Andrea Zietzschmann meint, die Philharmoniker seien nicht dafür da, die Schule zu ersetzen. „Wir haben vor, unser Angebot zu verbreitern, auch Programme für die mittlere Generation zwischen 30 und 50 Jahren zu entwickeln. Denn gerade bei den Kinderangeboten habe ich festgestellt, dass viele begleitende Erwachsene genau an demselben Punkt anfangen wie ihre Kinder.“ Erwachsene fänden es genauso spannend, bestimmte Dinge über klassische Musik zu hören. „Es bleibt aber ein Spagat“, so die Intendantin, „die Besucher mit Vorwissen anzusprechen und jene, die noch nie im Konzert waren.“
Die Absperrungen führen uns am Park entlang die Ebertstraße hinunter, zuversichtlich biegen wir in die Lenné-straße ein. Und sind beim Thema Schule angekommen, denn Andrea Zietzschmann ist auch die Mutter einer zwölfjährigen Tochter. Was ihre gewisse Bodenständigkeit erklärt. Und auch ihr Interesse an Education-Modellen, wie sie zugibt. „Ich habe meine Erfahrungen in Frankfurt im Kindergarten, später in der Grundschule in Hamburg gesammelt. Aber auch auf dem Berliner Gymnasium meiner Tochter kann man nicht voraussetzen, dass die Schüler Noten lesen können. Woher auch?“
In Hamburg habe sie „eine missionarische Sicht bekommen und mit der Klassenlehrerin gesprochen.“ Die habe versucht, allen Blockflöte beizubringen. Das sei ein ganz schwieriges Experiment gewesen. „Man stelle sich vor: 30 Kinder, die teilweise gar nicht Noten lesen können. Dabei müsste das Notenlesenlernen eigentlich in der Grundschule stattfinden, aber das ist heute nicht mehr der Fall.“ Als die Hamburger Elbphilharmonie eröffnet wurde, hat sie erst einmal ein paar Schulklassen durchgeführt. „Man gewinnt die Kinder ja so schnell und so leicht“, sagt sie, „aber es hilft natürlich ein Zuhause, das genau das fördert. Das Hamburger Modell, jedes Kind muss mindestens einmal die Elbphilharmonie besucht haben, würde ich gern für die Berliner Philharmonie umsetzen.“
Wir sind wieder an der Potsdamer Straße angekommen, die Philharmonie ist nur noch wenige Schritte entfernt. Ob es sie störe, dass die Philharmoniker vor allem als Luxusmarke wahrgenommen werden? „Eine Marke wie Bayern München zu sein, das stört mich überhaupt nicht“, sagt sie: „Es ist eine Frage der Qualität. Wenn ich sehe, welche Qualität jeder einzelne Musiker einbringt, macht mich das sehr glücklich. Aber wir wollen kein Luxusprodukt sein, das würde mir nicht gefallen.“ Dann beschließen wir, auf den Besuch der Parkbank zu verzichten. Der Abschied ist herzlich.
Zur Person
Ausbildung: Andrea Zietzschmann, 1970 in Schwenningen geboren, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und BWL in Freiburg, Wien und Hamburg. Parallel dazu wirkte sie beim WDR, der Staatsoper Stuttgart, der Staatsoper Hamburg und beim Gustav Mahler Jugendorchester.
Karriere: 1997 gründete sie mit dem Stardirigenten Claudio Abbado das Mahler Chamber Orchestra und war sechs Jahre als Intendantin tätig. 2003 kam sie als Orchestermanagerin zum Hessischen Rundfunk. Dort wurde sie 2008 hr-Musikchefin. Im November 2013 wechselte sie nach Hamburg, um das Management der vier NDR-Klangkörper zu übernehmen. Für die Residenz des NDR Elbphilharmonie Orchesters in der neu eröffneten Elbphilharmonie war sie federführend. Seit 1. September 2017 ist sie Intendantin der Stiftung Berliner Philharmoniker.
Privates: Andrea Zietzschmann hat eine 12-jährige Tochter.
Spaziergang: Wir haben uns an der Philharmonie getroffen und zunächst die St.-Matthäus-Kirche am Kulturforum besucht. Nach einem Schlängellauf durch den Tiergarten gelangten wir über die Straße des 17. Juni und die Scheidemannstraße zum Reichstagsgebäude. Wir besuchten das Brandenburger Tor und kehrten über Ebertstraße und Lennéstraße zurück.