Berlin. Als das Berliner Theatertreffen 2017 zum Auftakt Tschechows „Drei Schwestern“ in Simon Stones Inszenierung vom Theater Basel zeigte, herrschte einhellige Begeisterung bei Publikum und Kritikern. „Stone gibt Gas, greift in die Vollen, klotzt Konstellationen raus“, schwärmte etwa Christian Rakow auf nachkritik.de. Es schien, als habe Stone Tschechows 1901 uraufgeführtes Drama per Knopfdruck in unsere rasante Gegenwart gebeamt und ihm jede zeitgenössische Betulichkeit ausgetrieben.
Nichts bleibt, alles zerbricht und vergeht
Und das ist gar nicht so einfach. Denn den „Drei Schwestern“, von denen das Stück erzählt, ist es gerade wesenseigen, dass sie auf eine bedrückende Weise in Zeit und Raum gestrandet sind. „Nach Moskau! Nach Moskau!“ lautet der Sehnsuchtsruf, der das Stück leitmotivisch durchzieht. Irina, Mascha und Olga sind mitsamt ihrem Bruder Andrej wegen ihres Vaters, eines Brigadegenerals, in ein weit von der Metropole gelegenes Provinzstädtchen verschlagen worden. Nun ist der Vater seit bald einem Jahr tot, und die drei Schwestern hadern mit ihrem Schicksal und der Frage, welches Leben sie führen sollen – und warum überhaupt.
Die Sinnfrage und das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit wabern durch dieses Stück. Es entzieht sich den althergebrachten Rezepten dramaturgischen Erzählens, hat also keinen nennenswerten Spannungsbogen. Und es kennt auch keine eigentliche Hauptfigur, sondern drei mehr oder weniger gleichberechtigte Charaktere. Stattdessen verlässt es sich auf die Illustration eines Lebensgefühls: einer tiefen, verzweifelten Melancholie, wie sie im europäischen Bürgertum an der Wende zum 20. Jahrhundert um sich griff. Darin lag damals sein revolutionärer, für das Theater stilprägender Kunstgriff. Heute liegt darin auch ein Risiko: Wer zwei Stunden lang von Erstarrung erzählt, läuft schnell Gefahr, in Wiederholungsschleifen zu geraten und seinerseits langweilig zu werden.
Dass alles verschwindet und schnell vergessen wird, ja dass schon vom prall erfüllten Leben der Großeltern oft nicht mehr bleibt als eine Brosche oder eine vergilbte Fotografie: Das kann man bereits einem Auszug aus Aleida Assmanns Buch „Formen des Vergessens“ entnehmen, der sich im Programmheft findet. Das Zerbröseln gelebter Gegenwart ins Nichts illustriert Lichtdesigner Voxi Bärenklau mit schemenhaften Umrisse der Darsteller, die er zeitversetzt und verlangsamt an den Bühnenhintergrund projiziert. Wir ahnen: Es ist eine Geschichte aus dem Schattenreich, die Regisseurin Karin Henkel hier ganz werkgetreu inszenieren möchte. Trockeneisnebel zieht schon vor Beginn der Premiere ins Publikum und löst sorgenvolle Fragen nach den Rauchmeldern und der Sprinkleranlage aus.
In einem anderen Punkt weicht die Regie aber entschlossen von bisherigen Inszenierungen ab: Die „Drei Schwestern“ sind mit Männern besetzt. Wir sehen Bernd Moss als Olga, Michael Goldberg als Mascha und Benjamin Lillie als Irina – mal mit, mal ohne puppenhafte Masken. Was man als abgeschmackte Travestie belächeln könnte, erweist sich als plausible Entscheidung: Dem Stück wird die etwas platte sozialhistorische Lesart als Frauengeschichte entzogen, während es zugleich auf seinen allgemein menschlichen Gehalt geprüft wird. In der Theorie könnte das zu einem spannenden Abend führen, der Tschechows Vorlage in überraschender Weise deutet.
Dass dies nicht vollständig gelingt, hat mit den Schauspielern wenig zu tun. Es macht Spaß, Bernd Moss in der Rolle der Olga zu sehen, die mit ihrer monotonen Aufgabe im Schuldienst hadert. Zugleich schlüpft er in die Uniformjacke des eher überdrüssigen Offiziers Werschinin. Auch Michael Goldberg als schlaksige Mascha, den wir nebenbei auch als betrogenen Ehemann Kulygin sehen, spielt souverän und nuancenreich auf der Klaviatur des Unglücks. Und Benjamin Lillie als jüngste Schwester Irina weiß schon in der ersten Szene Schutzbedürfnisse zu wecken, als er mit drei Ballons um den Hals die Bühne betritt, als stehe nicht Irinas Namenstag, sondern ihr Tod durch den Strang bevor. Felix Goeser als Bruder Andrej und Schwägerin Natascha weiß für unterhaltsame, oft lustige Momente zu sorgen – während die Ausnahmeschauspielerin Angela Winkler alle überstrahlt, die, obwohl bald 75 Jahre alt, in der Eingangs- und der Schlusssequenz den Part der jungen Irina übernimmt und diese mit einer so stillen, kraftvollen Intensität verkörpert, dass man nicht mehr atmen mag.
Die Klagen beginnen sich zu wiederholen
An ihnen allen liegt es also nicht, dass man im Zuschauerraum nach 90 Minuten erste verstohlene Blicke auf die Armbanduhren bemerkt – und auch nicht an der gelungenen Bühne Nina von Mechows, die das Zuhause der Schwestern per Drehbühne und Hubtechnik in eine Art schlingerndes Schiff verwandelt, immerzu im Kreis zu fahren verdammt ist. Es liegt schlicht daran, dass diese Inszenierung, hat man ihr Konzept erst einmal verstanden, auf der Stelle zu treten beginnt. Aus den wiederholten Klagen über Kopfschmerz, Müdigkeit und Schicksal meint man so am Ende eine Larmoyanz herauszuhören, die das Mitgefühl mit den Figuren bremst und auch dem wehmütigen, aber nicht wehleidigen Geist der „Drei Schwestern“ widerspricht. Hier hätte es einer überzeugenden dramaturgischen Idee bedurft, um die einzigartige Spannung dieses Stücks zu halten. So wird daraus leider nur ein durchwachsener Abend.
Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Mitte. Nächste Vorführung: 16. November, 19 Uhr.