Theater

„Es gibt natürlich einen Berlin-Druck“

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Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, zieht im Gespräch eine erste Bilanz seiner Spielzeit am Haus

Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, zieht im Gespräch eine erste Bilanz seiner Spielzeit am Haus

Foto: Amin Akhtar

Wie geht es weiter am Berliner Ensemble? Ein Gespräch mit dem Intendanten Oliver Reese über seine Pläne und das Publikum der Hauptstadt.

Berlin. Am Donnerstag hat das Berliner Ensemble sein Programm für die Spielzeit 2018/19 veröffentlicht. Wohin geht die Reise, wie verlief sie bislang? Das fragten wir Oliver Reese im Hof des Theaters.

Herr Reese, Ihre erste Spielzeit als Intendant am Berliner Ensemble geht in den Endspurt. Wie läuft‘s denn so?

Oliver Reese: Sehr gut. Es kommen noch zwei Premieren: „Dekameron“, wo wir en suite im kleinen Haus 36 Vorstellungen spielen werden, jeweils für 30 Zuschauer, mit dem RambaZamba Theater zusammen. Und „Ballroom Schmitz“, etwas Musikalisches, hoffentlich Lustiges, von Clemens Sienknecht und Barbara Bürk inszeniert. Aber mit „Endstation Sehnsucht“ von Michael Thalheimer war ja gerade die letzte große Premiere. Die kam beim Publikum auch richtig gut an.

Drückt sich das auch in den Auslastungszahlen aus?

Wir sind bei knapp 83 Prozent und hatten bis zum 22. April über 110.000 Zuschauer. Die Einnahmen liegen bei 2,2 Millionen. Das sind die harten Zahlen. Wir haben mit Frank Castorfs „Les Misérables“ einen sperrigen, wuchtigen Abend gemacht. Wir haben mit „Panikherz“ etwas für junge Leute gemacht, das ist auch dauernd ausverkauft. Und jetzt mit „Endstation“ nochmal ein wuchtiges Repertoirestück mit tollen Schauspielern.

Sind Sie erschöpft?

Es war schon eine gewaltige Kraftanstrengung. Wir haben im Sommer erst übernommen und das Haus hat uns vor viele Aufgaben gestellt. Wir haben Umbauten angezettelt, die jetzt peu à peu vorangetrieben oder schon fertiggestellt wurden. Mitte Mai nehmen wir unsere neue Probebühne auf dem Gebiet des Technikmuseums in Beschlag und ziehen da ein. Die Kantine hat eine komplett neue Küche bekommen und einen insgesamt neuen Look. Wir haben aus einer Probebühne eine temporäre Spielstätte gemacht und angeschoben, dass das grüne Haus ab Juni ordentlich saniert wird. Wir haben ein neues Ensemble, das sich finden musste. Das alles plus volles Programm: 16 Premieren, zehn Wiederaufnahmen aus Frankfurt.

Das sind deutlich mehr als zuletzt unter Claus Peymann.

2015 gab es im Berliner Ensemble acht Premieren in beiden Häusern – fünf im großen, drei in den kleinen. Wir haben jetzt 16 gemacht. Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Es ist ungewöhnlich, wie wenig hier gemacht wurde. Ich denke, es hat auch mit dem Lebensrhythmus eines dann 80-jährigen Intendanten zu tun gehabt, dass wir jetzt einen anderen Beat haben, dass wir eine andere Lebendigkeit wollen.

Was steht in der kommenden Spielzeit ins Haus?

Wir konnten sehr interessante Regisseure und Regisseurinnen gewinnen. Den Anfang macht Karen Breece. Sie recherchiert ihre Projekte und erarbeitet sie dann mit den Schauspielern auch textlich gemeinsam. Sie macht einen Abend zur Eröffnung über Obdachlosigkeit. Árpád Schilling wird sicher einen sehr politischen Abend machen, die politischen Verhältnisse in Ungarn bringen ihn dazu. Er ist ja zum Staatsfeind erklärt worden, kann dort nicht mehr arbeiten und freut sich sehr, am Theater von Brecht seine Arbeit fortsetzen zu können. Ich hab sehr um Simon Stone gerungen, wir sind das einzige deutsche Haus, an dem er in der nächsten Spielzeit arbeiten wird. Sein Projekt heißt „Eine griechische Trilogie“. Er wird darin über die Geschlechterfrage arbeiten und aus heutiger Sicht antike Stücke befragen. Kay Voges, Intendant am Schauspiel Dortmund, wird das Thema Digitalisierung zum Gegenstand des Arbeitsprozesses machen. Sieben Schauspieler aus Dortmund, sieben Schauspieler aus Berlin proben gemeinsam vier Wochen lang, ab dann wird die ICE-Verbindung genutzt und die Datenautobahn, um dieses Stück an zwei Orten gleichzeitig Premiere haben zu lassen.

Das heißt, ich kann mir in Berlin ansehen, was in Dortmund gleichzeitig passiert?

Absolut. Wenn in Dortmund einer aufs Klo muss, können wir in Berlin nicht anfangen. Es wird alles synchronisiert, der große Kampf geht gegen die sogenannte Latenz, diese kleine Verzögerung zwischen Bild und Ton. Damit das wirklich alles zeitgleich ist, die Schauspieler auf einer Musik, auf einem Atem, aber an zwei Orten eine Geschichte aus zwei Perspektiven erzählen. Das läuft mit den Split Screen-Verfahren, wie bei dem Film „The Thomas Crown Affair“. Es wird immer bilderreicher, je länger der Abend dauert.

Sie selbst inszenieren auch wieder?

Ja, ich mache ein Stück im Jahr. Intendant dieses Hauses zu sein, ist eine a) ehrenvolle und b) zeitaufwendige Aufgabe. Ich hab ja diese Spielzeit „Panikherz“ gemacht als neue Produktion, gestern war Udo Lindenberg mit Stuckrad-Barre hier, war richtig was los. Er hat gesungen mit den Schauspielern zusammen. In der nächsten Spielzeit mache ich ein Stück von dem Autor, den wir ja schon zweimal gespielt haben, dem Pulitzer-Preisträger Tracey Letts, bekannt auch als Schauspieler aus „Homeland“. Ein spielender Autor, dem man anmerkt, wie genau er weiß, wie man auf der Bühne spricht. Also ganz tolle Dialoge. Von ihm kommt jetzt „Wheeler“, ein Männerstück. Ein fünfzigjähriger, weißer, Nichttrumpwähler, trotzdem ein Loser, eine sehr amerikanische Figur, ein Mann, der noch im Analogen verhaftet ist. Eine sehr berührende, harte, lebensnahe Geschichte. Der andere gewichtige Schwerpunkt der Saison: Heiner Müller, zweimal, und Bertolt Brecht, dreimal. Michael Thalheimer wird Heiner Müllers „Macbeth“ machen, und wir machen noch ein Stück über Heiner Müller von Fritz Kater – es heißt „heiner 1-4“ und handelt von Müllers letzten Lebensjahren auch am Berliner Ensemble. Und Castorf macht nach seinem „Baal“ wieder Brecht, Galileo Galilei. Und wir haben eine kleine Brecht-Entdeckung einen Monolog, die Geschichte des Boxers Samson Körner, von ihm selbst erzählt, wird der Schauspieler Oliver Kraushaar in der Regie von Dennis Krauß hier auf die Bühne bringen und schließlich macht die Ernst Busch-Schauspielschule Brechts Antigone-Bearbeitung.

Klassiker wie Arturo Ui werden aber weiterhin gespielt?

Den Arturo Ui würde ich niemals absetzen. Das ist ein Stück Theatergeschichte. Wir kriegen ihn nur selten terminlich auf die Beine gestellt. Wenn Sie Frau Broich und Herrn Wuttke koordinieren müssen und dann noch fünfzehn andere Gäste, dann ist man froh, wenn man zwei oder drei Vorführungen in der Saison hat. Wir spielen auch die „Dreigroschenoper“ weiter, wir spielen „Medea“ weiter, „Penthesilea“, unsere Schätzchen.

Sie waren zuletzt Intendant am Schauspiel Frankfurt. Was sind die größten Unterschiede zu Berlin?

Alles ist ganz anders. Das Schauspiel Frankfurt ist die größte Bühne im deutschsprachigen Raum, das Berliner Ensemble ist vermutlich die kleinste Bühne unter den großen Theatern: acht Meter Portalöffnung, in Frankfurt sind es 24. Sie können also das BE dreimal nebeneinander und dann noch zweimal dahinter quer auf die Frankfurter Bühne stellen. Ein riesiger Unterschied! In beide Theater gehen 700 Zuschauer, aber das eine ist halt mit zwei Rängen sehr eng, sehr dicht gepackt, das andere ist eine riesige, große Halle, wo man mit Chören und Filmen Cinemascope machen muss.

In Berlin dürfte auch das Konkurrenzangebot größer sein.

Wir haben hier den freundlichen Wettstreit der fünf staatlich subventionierten Häuser plus ihrer Nebenhäuser und Spielstätten plus Renaissancetheater plus die freie Szene. Dann gibt es die Opernhäuser und die Konzerte. Dann haben Sie in Frankfurt einen ganz treuen, gewachsenen Stamm von 8000 Abonnenten, die in meiner Zeit verdreifacht wurden – damit haben Sie 14 Aufführungen schon einmal voll. In Berlin gibt es kein Abonnement, jede Aufführung muss um ihr Publikum kämpfen. Mal macht die Berlinale weitere Konkurrenz, mal das Theatertreffen. Das ist anstrengend, aber auch gesund. Eine Aufführung muss einfach gut sein. Ein Theater, das nicht voll ist, macht niemandem Spaß, nicht den Schauspielern, nicht den Zuschauern.

Und das Publikum, die Theaterkritik?

Es gibt natürlich einen Berlin-Druck. Den muss ich als Intendant niemandem machen, der kommt ganz von alleine. Das liegt an den Leuten, die hier abends im Theater sind, ein hochlebendiges Publikum, das sehr viel gesehen hat. Eine Theaterkritik, die furchtbar oft ins Theater gehen muss und von daher schnell gelangweilt ist und schnell der Meinung ist, das kennen wir alles schon. Da muss man auch schon Ellenbogen und Durchhaltevermögen trainieren.

Trifft es Sie, wenn Sie verrissen werden?

Ich lese längst nicht alles, lasse es mir aber erzählen. Als ich noch nicht Intendant war, habe ich viele Kritiken gelesen. Und ich lese jetzt auch viele Kritiken, aber nicht über mein eigenes Haus. Manchmal lese ich es viel später. Vier Wochen danach oder ein halbes Jahr später schaue ich mir an, was über unsere Eröffnung geschrieben wurde. Also wir sind schon alle verletzlich. Man ringt ja aufrichtig um gute Arbeit. Wenn man dann attestiert bekommt: Es hat nicht gereicht, dann muss ein bisschen Gras über die Sache gewachsen sein … Ich geh dann langsam am Büro unseres Öffentlichkeitsarbeiters vorbei und ruf ihm zu: Wie wars? Und glauben Sie doch bitte nicht, dass wir immer alles gut finden. Hits kann man nicht planen, Erfolge auch nicht, und dass bei 15, 16 Aufführungen nicht alle im Verdacht stehen, zum Theatertreffen eingeladen zu werden, ist ja auch relativ klar.

Über die Volksbühne wurde in letzter Zeit am meisten geredet.

Das ist ein Theater, das vital sein kann, das hat tolle Möglichkeiten. Ein fantastischer Bau. Das ist ja eine sehr große Bühne, da müssen Sie in eine riesige Halle reinspielen. Da brauchen Sie sehr viel Handwerk, auch Regie, um das zu füllen. Frank Castorf hat das jahrelang vorgeführt, wie das funktionieren kann. Da haben wir es am BE erstmal etwas leichter. Aber das wird schon werden. Ich halte das für keine unlösbare Aufgabe, da eine Intendantin oder einen Intendanten zu finden. Mir schienen Dercons Pläne von Anfang an nicht überzeugend theatral gedacht. Da war viel Geschwurbel und viel Theorie dabei, mein Theaterinstinkt hat darauf eher zurückhaltend reagiert. Man hätte sehr genau analysieren müssen: Welche Mittel und Künstler braucht man, um so ein Haus zu füllen? Nicht unbedingt einen spanischen Filmregisseur, der fast noch nie Theater gemacht hat, mit einem dubiosen Stück. Das hätte man auch lesen können und merken, dass das nichts fürs große Haus ist

Braucht ein Theater ein Ensemble?

Man muss sich schon sehr genau überlegen, wie man ohne festes Ensemble ein Repertoiretheater bespielen kann. Aus einem einfachen Grund: Ensemble und Repertoire gehören zusammen. Wenn Sie ein Ensemble haben, haben Sie die Terminhoheit über ihre Leute. Das ist ja der Deal: Ihr kriegt dreizehn Monatsgehälter, ich kriege euren Terminkalender. Deswegen können wir die Aufführungen so planen, wie wir sie brauchen. Wenn Sie kein festes Ensemble haben und ein Haus der Größe der Volksbühne, bekommen Sie zwangsläufig Probleme.

Wie gut hat ihr neues Ensemble zusammengefunden?

Ich freue mich, dass Frank Castorf hier eine Heimat hat. Dass Michael Thalheimer als fester Regisseur ans Haus gebunden ist, dass wir diese Schauspieler ganz ernst nehmen und wirklich nur hier Theater spielen und jemand wie Constanze Becker oder Corinna Kirchhoff oder Bettina Hoppe ganz regelmäßig wieder in Berlin zu sehen sind. Nico Holonics, der hier die „Blechtrommel“ alleine im Großen Haus spielt, Carina Zichner, die so toll singt und die man liebt gewinnt und in „Panikherz“ die Leute zu Begeisterungsstürmen bringt; Steffi Reinsperger, die nicht nur in Österreich ein Star ist, sondern jetzt auch in Berlin. Da hat was funktioniert.

Sie leben in Schöneberg. Fühlen Sie sich wohl?

Ich bin richtig glücklich da. Das ist ein wunderbarer, nicht gentrifizierter Kiez. Die Akazienstraße mit ihren kleinen charmanten Cafés ist um die Ecke. Was man in Berlin für Entdeckungen machen kann, das ist toll. Das passiert mir auch, wenn ich meine Töchter in Neukölln besuche. Oder wenn ich in Charlottenburg bin. Letztens erst habe ich einen fantastischen Franzosen neben dem Klick-Kino in Charlottenburg entdeckt. Ich bin ein großer Fan von Berlin.