Was ist das Glück? Zu Mittag gibt es „‚Radieschen und gute foie de veau mit Kartoffelbrei und Endiviensalat. Apfelkuchen.‘ – ‚Und wir haben alle Bücher der Welt zum Lesen, und wenn wir auf Reisen gehen, können wir sie mitnehmen.‘“ Ende 1921 kommen Ernest Hemingway und seine Frau Hadley in Paris an.
Und kurz darauf lernt der junge Korrespondent des „Toronto Star“ Sylvia Beach und ihre legendäre Leihbibliothek Shakespeare & Company in der Rue de l’Odéon 12 kennen, das Zentrum der englischsprachigen Szene. Fortan ist sein Nachschub an Weltliteratur gesichert – und auch der seiner Frau. „‚Hat sie auch Henry James?‘ – ‚Klar‘. – ‚Was für ein Glück‘, sagte sie, ‚dass du das entdeckt hast.‘ – ‚Wir haben immer Glück‘, sagte ich und klopfte wie ein Narr nicht auf Holz.“
Der verzweifelte Autor sucht ein Ende
„Paris – Ein Fest fürs Leben“ war das letzte Buch, an dem Hemingway arbeitete, bevor er sich, ein seelisches Wrack, am 2. Juli 1961 in seinem Haus in Ketchum erschoss. Erst im April, vor seinem letzten Klinikaufenthalt, bei dem seine Depressionen, sein Verfolgungswahn und seine Aggressionsschübe infolge einer bipolaren Störung abermals mit Elektroschocks behandelt wurden, hatte er einen verzweifelten Brief an seinen Verleger verfasst: Ihn gelinge kein passender Schluss für das Werk über seine Anfänge als Schriftsteller, und man solle es doch so veröffentlichen.
Das geschah dann erst posthum, 1964. Den Originaltitel „A Moveable Feast“ bestimmte seine letzte Ehefrau Mary – als „bewegliches Fest“ bezeichnet man Feiertage wie Ostern, die in jedem Jahr auf ein anderes Datum fallen können. Hemingway soll diesen Ausdruck einmal auf Paris übertragen haben: „Wenn du das Glück hattest, als junger Mensch in Paris zu leben, dann trägst du die Stadt für den Rest deines Lebens in dir, wohin du auch gehen magst.“
Warum trug Hemingway, der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit, diese gerade mal fünf Pariser Jahre durch sein ganzes Leben – nach Afrika, durch den spanischen Bürgerkrieg, nach China und Kuba bis nach Stockholm und bis in seine letzte Heimat in Idaho? Warum lässt diesen besessensten aller Schriftsteller-Abenteurer ausgerechnet die Pariser Künstler-Idylle nicht los? Was steckt da für ein Lebensballast in Kalbsleber und Henry-James-Bänden?
Wenn man das nun in seiner „Urfassung“ zum Todestag neu ins Deutsche übertragene Buch liest, überrascht zunächst der ruhige, beiläufige, elegisch-bedächtige Ton. Hemingway beschreibt die Ernsthaftigkeit der Angler an der Seine, den Ziegenhirten mit seiner Rohrflöte, der an einem Frühlingsmorgen seine Herde durch die Straßen treibt, die Parks und die Hinterhöfe mit erstaunlicher topografischer und atmosphärischer Detailfülle – so als wäre jene Zeit tatsächlich begehbar wie ein unverändert belassenes Zimmer im Elternhaus.
Legenden verschatten das Werk
Gleich zu Beginn erzählt er, wie er im Café eine seiner ersten großen Stories schreibt, „Oben in Michigan“: „Vielleicht konnte ich fern von Paris über Paris schreiben, wie ich in Paris über Michigan schreiben konnte.“ Er begann die Arbeit am „Fest“ 1957 auf Kuba, da hatte er, trotz des Nobelpreises 1954, seinen Gipfel als Autor lange überschritten.
Bereits zu Lebzeiten legen sich bei Hemingway der Ruhm und die Legenden verschattend über das Werk. Der Erzähler, der wie kein Zweiter das Geschichtenerzählen im 20. Jahrhundert geprägt hat, verschwindet hinter der Selbstinszenierung als furchtloser Krieger und Trophäensammler.
Blättert man einen opulenten Bildband wie den gerade in der Edition Olms erschienenen durch, kann man bald nur noch den Kopf schütteln angesichts der sich ewig wiederholenden Siegerposen: der Angler mit kleinen Fischen, der Angler mit großen Fischen, der Jäger vor geschossenem Büffel, vor Löwen, vor Antilopen und Nashörnern, beim Vermessen von Geweihen, Hemingway beim Stierkampf, Hemingway beim Boxen und, natürlich, als Soldat an allen Fronten.
Im Rückblick entlarvend ist da ein Bericht der Lokalzeitung von 1919 über die Rückkehr des ruhmreichen Sanitätsoffiziers aus Italien, in dem Hemingway seine war story grotesk ausgeschmückt hat. Der Leutnant, so heißt es dort, würde darüber spotten, wenn er „ein Held“ genannt werde; er habe nur seine Pflicht getan. Tatsächlich wird der von „32 Maschinengewehrkugeln“ verletzte Veteran sein Leben lang zwanghaft den Helden spielen.
Auch das „Paris“-Buch ist ein Kampf, ein letzter und ziemlich schmutziger Kampf allerdings – was man leicht übersehen kann. Denn die Episoden aus der Pariser Literatenszene, die Porträts von Gertrude Stein, Ford Madox Ford oder F. Scott Fitzgerald sind äußerst tendenziös und manchmal bösartig – obwohl Hemingway vor allem den beiden Ersteren viel zu verdanken hatte.
Ford erscheint als habitueller Lügner, selbst in banalsten Alltagssituationen, Zelda Fitzgerald als geisteskranke Zerstörerin des Werks ihres gleichfalls komplett neurotischen Mannes. Eines der absurdesten Kapitel des Buchs erzählt von einer Autoreise von Scott Fitzgerald und Hemingway, wo die beiden nichts anderes tun als literweise Whisky und Wein in sich hineinzuschütten und der Hypochonder Fitzgerald im Hotel einen Totalzusammenbruch erleidet.
Hemingway ist hier keineswegs zu trauen, aller scheinbaren Genauigkeit der Erinnerung zum Trotz. Im Anhang sind seine Entwürfe für ein Vorwort enthalten; hier heißt es lapidar: „Die Geschichten in diesem Buch sind alle erfunden.“ Und an anderer Stelle: „Hier wird viel von Armut erzählt, aber wir haben nicht nur in Armut gelebt.“ Auch die Stilisierung des Jungschriftstellers zum Hungerleider gehört für Hemingway zum Topos einer Künstlerbiografie. Hemingway kann offenbar nicht anders, als sein Leben zur Legende zu machen.
Verneigung vor der ersten Frau
Die wahre Adressatin des Buchs ist Hadley, die Gefährtin jener Jahre – sie starb erst 1979. Hemingway begann 1926 eine Affäre mit der gemeinsamen Freundin Pauline Pfeiffer; die Scheidung von Hadley kam 1927, ein halbes Jahr nachdem sein erster großer Roman „Fiesta“ erschienen war.
Das Scheitern der zuvor so harmonisch geschilderten Ehe erwischt auch den Leser kalt: Mit ihrem kleinen Jungen verbringt die Familie den Winter 1924/25 in Schruns in Vorarlberg, und die Schilderung von – natürlich sehr heroischen und gefährlichen – Skiläufen „über Gletscher, unangeseilt“ kippt dann in eine kryptische Dreiecksgeschichte mit der wohlhabenden Pauline. „Die Herzen dreier Menschen wurden niedergewalzt, um das eine Glück zu zerstören und ein anderes zu gründen, und die Liebe und die gute Arbeit und alles, was sich daraus ergab, gehören nicht in dieses Buch."
Eine merkwürdige Dreiecksgeschichte
Hätten sie eben doch gehört, das wäre das eigentliche Thema gewesen und der Schluss, den Hemingway auch dreieinhalb Jahrzehnte später nicht schreiben konnte. Das sehr unangeseilte Schlusskapitel der Erstausgabe war von ihm selbst verworfen worden (es wird nun im Anhang wiedergegeben). Darin spielt der frühere Freund John Dos Passos, durch den Hemingway Pauline erst kennengelernt hatte, eine Hauptrolle.
Ohne ihn beim Namen zu nennen, wird der damals noch mit „Manhattan Transfer“ erfolgreichere Kollege gehässig porträtiert – als „Lotsenfisch“, der mit untrüglichem Gespür stets die „Reichen“ dieser Welt im Schlepptau hat: „Er verfügt über die unersetzliche frühe Ausbildung des Schweinehunds und hat eine heimliche, lange geleugnete Liebe zum Geld.“ Zum Bruch zwischen beiden war es in Wahrheit erst viel später, während des spanischen Bürgerkriegs, gekommen.
Sieg der Rücksichtslosen
Obwohl Hemingway die Schuld am Scheitern der Ehe auf sich nimmt, sieht Dos Passos wie der eigentliche Strippenzieher aus; und auch Pauline kommt schlecht weg; er selbst dagegen ist vor lauter Schaffensstress zur Gegenwehr unfähig: „Wenn er mit seiner Arbeit fertig ist, hat der Mann zwei attraktive junge Frauen um sich. Die eine ist neu und fremd, und wenn er Pech hat, liebt er sie am Ende beide. Und die Rücksichtslose trägt den Sieg davon.“
Das alles ist eine so unglaubwürdige Version der Ereignisse, dass man sich fast schämt. Der selbst ernannte Torero, der Stierkampf als Metapher des Lebens begreift, ist unfähig, sich der Wahrheit mit bloßer Brust zu stellen – bei aller Reue, die das Leitmotiv seiner Erzählung bildet.
"Ich bitte Hadley um Verzeihung"
Sieben Achtel davon liegen aber unsichtbar und unausgesprochen unter der Oberfläche des Textes. Hemingways berühmte „Eisberg“-Poetik wird auch in „Paris“ mehrfach beschrieben, weil damals die ersten Stories erschienen, die ernst machten mit seiner „Theorie, dass man alles weglassen konnte, wenn man sich dessen bewusst war, und das Weggelassene die Geschichte noch verstärkte und die Leute dazu brachte, dass sie mehr fühlten, als sie verstanden“. Übertragen auf das Autobiografische wird daraus allerdings eine Hermeneutik des Verdachts: Man spürt, dass der Erzähler das Wichtigste verschweigt.
Nicht das „Fest“ hat Hemingway ein Leben lang mit sich herumgetragen, sondern seine Reue. In Schruns liest er einmal „Schuld und Sühne“. Mit seinem Paris-Buch hat Hemingway bis zu seinem Tode an der Rekonstruktion eines frühen, unbeschwerten Glücks gearbeitet. In einem Vorwortentwurf heißt es: „Ich bitte Hadley um Verzeihung für jegliche falsche Darstellung oder Fehler oder Irrtümer. Sie ist die Heldin der Geschichten, und ich hoffe, sie versteht. Sie hat alles Gute im Leben verdient, einschließlich korrekter Darstellung.“ Hemingways letztes Buch ist eine Bitte um Vergebung. Fast hätte er es doch noch über sich gebracht, sie richtig zu formulieren.
Ernest Hemingway: Paris – ein Fest fürs Leben. Die Urfassung. Übersetzt v. Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, 320 S., 19,95 €
Ernest Hemingway in Bildern und Dokumenten. Edition Olms. 208 S., 49,95 €