Musik zum Mitleiden

Warum Bachs Matthäuspassion zu Ostern gehört

| Lesedauer: 7 Minuten
Martina Helmig

Foto: picture-alliance / akg-images / picture-alliance / akg-images/akg

Bachs Matthäuspassion erfreut sich heute größerer Beliebtheit als noch zu Lebzeiten des Komponisten. Dazu hat nicht nur ihre Wiederentdeckung durch Mendelssohn beigetragen. Aber wie wurde die Leidensgeschichte so populär und wo kann man sie in Berlin hören.

Bach war wieder pünktlich fertig geworden. Zu Ostern hatte der Thomaskantor eine brandneue Passionsmusik geschrieben, ganz wie es in seinem Dienstvertrag stand. Nun gut, nicht alle 68 Einzelteile der Matthäuspassion waren wirklich neu. Ein paar Stücke hatte Johann Sebastian Bach aus früheren weltlichen Werken übernommen und den dichtenden Postbeamten Picander mit neuen Texten ausstatten lassen. Der Thomaskantor hatte schließlich ein immenses Kompositionspensum zu bewältigen.

Die Leipziger erlebten die Uraufführung im Nachmittagsgottesdienst am Karfreitag, 1727 oder 1729, genau lässt sich das nicht mehr nachweisen. Orchester und Thomanerchor waren viel zu klein, Bach klagte oft über die Arbeitsbedingungen, aber es half nichts. Er hatte nach alter, eigentlich schon aus der Mode gekommener Tradition ein doppelchöriges Werk geschrieben. Zwei, drei Dutzend Sänger standen auf der Westempore und der damals noch existierenden Ostempore. Auch die Solopartien mussten die Chorsänger übernehmen. Die beiden Teile der Matthäuspassion umrahmten die Predigt, danach folgten noch Gebete und Lieder. Die Passion schildert den Leidensweg Christi vom Abendmahl bis zur Kreuzigung. Es geht um die Gefangennahme, die Flucht der Jünger, Verhör und Gericht, den Zug nach Golgatha und den Tod am Kreuz. Die Worte aus dem Matthäus-Evangelium der Heiligen Schrift werden immer wieder durch dichterische Einschübe unterbrochen.

Der Brauch, die Passionsgeschichte in der Karwoche vorzutragen, reicht bis ins Mittelalter zurück. Trotzdem müssen die Besucher in der Leipziger Thomaskirche irritiert gewesen sein. So ein opulentes, ausdrucksmächtiges Oratorium hatten sie noch nie gehört. Bei seiner Bestallung als Thomaskantor hatte Bach 1723 unterschreiben müssen, dass er seine Kompositionen nicht zu lang und nicht zu opernhaft gestalten würde. Gegen beide Gebote verstieß er mit der Matthäuspassion.

Die Passion in der Schublade

Diese Musik war nicht leicht zu verstehen. Da gab es ganz neuartige Töne, in die Zukunft weisende, expressive Harmonien wie in dem Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“. Es gibt kein Zeugnis, das der Matthäuspassion einen Riesenerfolg bescheinigte. Nach der Aufführung nahm Bach wohl seine Partitur unter den Arm, trug sie nach Hause und legte sie in die Schublade. In den folgenden Jahren nahm er sie noch ein paar Mal heraus, bevor die Passion in ihren langen Dornröschenschlaf fiel. Bach würde wohl staunen, wenn er erleben könnte, wie beliebt seine Matthäuspassion heute ist. Fast drei Jahrhunderte nach der unspektakulären Uraufführung gehört Bachs Meisterwerk für viele Musikfreunde unbedingt zum Osterritual. Landauf, landab erklingt es öfter als jede andere Passionsmusik.

Warum nur ist die Matthäuspassion heute populärer als zu Bachs Zeiten? Seine Zeitgenossen hatten doch eine viel engere Beziehung zu den biblischen Texten und Geschichten. Heute spielen Religion und geistliche Musik keine so große Rolle. Aber auch Menschen, die nie zum Sonntagsgottesdienst in die Kirche gehen, wollen zu Ostern die Matthäuspassion erleben.

Offenbar muss man nicht daran glauben, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist, um seine Leidensgeschichte fesselnd zu finden. „Da ist jemand, der unbeirrt seinen Weg geht, sich durch nichts ablenken lässt, seinen eigenen qualvollen Tod in Kauf nimmt. Das ist doch für jeden Menschen faszinierend“, meint Hans-Christoph Rademann, der Chefdirigent des Rias-Kammerchors, der die Matthäuspassion mit dem Concerto Köln am Karfreitag in der Philharmonie aufführt. „Es ist auch mehr als spannend, wie unterschiedlich sich die anderen Figuren dazu verhalten: Judas, Petrus, Pilatus. Bach hat sie alle so plastisch und lebendig geschildert.“ Die Matthäuspassion beschreibt nicht nur menschliche Emotionen und Probleme wie Liebe, Hass, Angst, Verrat und Massenhysterie. Bachs Musik verführt zum Mitleiden.

Der Dornröschenschlaf der Matthäuspassion endete rund 100 Jahre nach deren Uraufführung. Der Weckruf ging von Berlin aus. Dass Bach nach seinem Tod völlig vergessen war, ist eine oft wiederholte Halbwahrheit. Vor allem seine Klavierwerke sind immer weit verbreitet gewesen. Die Familie Mendelssohn hatte lebendigen Anteil an der besonderen Berliner Bach-Tradition. Felix Mendelssohns Großtante, die Cembalistin Sara Levy, war eine Lieblingsschülerin des Bach-Sohns Wilhelm Friedemann und besaß Handschriften von Johann Sebastian Bach.

Manuskripte im Familienbesitz

Mendelssohns Vater erwarb von Bachs Enkelin die Kantaten-Autographe, die er im Jahr 1811 der Berliner Sing-Akademie überließ. Zahlreiche Bach-Manuskripte befanden sich im Familienbesitz. Felix Mendelssohn und seine Schwester Fanny bekamen Theorieunterricht bei dem tief in der Bach-Tradition verwurzelten Carl Friedrich Zelter. Beide traten in dessen Sing-Akademie ein, in der Bachs Vokalwerke gepflegt wurden. Felix Mendelssohn leitete am 11. März 1829 die denkwürdige Wiederaufführung der Matthäuspassion in der Sing-Akademie zu Berlin. Damit begann ihr Siegeszug durch Deutschland und eine Renaissance von Bachs großen Chorwerken. Es war auch die Geburtsstunde des Historismus. Von da an wurden ältere Musikstücke neben zeitgenössischen Werken in den Konzerten immer bedeutender.

Die Matthäuspassion hat sich im Lauf der Jahrhunderte als ausgesprochen wandlungsfähig erwiesen. Mendelssohn „modernisierte“ die Passion nach dem damaligen Zeitgeschmack, strich Arien und ersetzte unzeitgemäße Instrumente. Stardirigent Karajan ließ sie 1972 in Salzburg in einer gigantomanischen Besetzung mit acht Kontrabässen erklingen, während Nikolaus Harnoncourt gleichzeitig begann, die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis auf Bachs Werk anzuwenden. Kirchenmusiker und Generalmusikdirektoren, Opernstars und Oratoriensänger widmen sich dem Werk. Manche Dirigenten bevorzugen die Kirche als Aufführungsort, andere den Konzertsaal. Wieder andere Künstler gestalten szenische Versionen.

Heute zweifelt niemand mehr daran, dass es sich hier um einen Meilenstein der Musikgeschichte handelt. Zahlreiche Abhandlungen über Gehalt, Architektur und Zahlensymbolik beweisen den zeitlosen Wert. Um die Matthäuspassion aufnehmen zu können, benötigen wir innere Ruhe und einen einfühlsamen Geist, heute wie zu Bachs Zeiten. Die universelle Sprache seiner Musik wird auch dort verstanden, wo der Passionstext kaum jemanden erreichen kann. Die Karfreitags-Aufführung des Rias-Kammerchors wird im Rundfunk bis nach Frankreich, Serbien und Australien übertragen.

Passionskonzerte zum Karfreitag

Philharmonie Bachs: Matthäuspassion: Rias-Kammerchor, Concerto Köln, Maximilian Schmitt (Tenor), Franziska Gottwald (Alt), Lothar Odinius (Tenor), Christina Landshamer (Sopran), Markus Eiche (Bass),Tobias Berndt (Bariton), Hans-Christoph Rademann (Dirigent), 20 Uhr.

Nikolaikirche Potsdam: Exxential Bach, Björn O. Wiede (Dirigent), 18 Uhr.

Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche: Bach in einer Bearbeitung von Julia Krenz; Lesungen aus dem Matthäus-Evangelium und Texte von Morgenstern, Weinheber und Wiemer, 15 Uhr.

Französische Friedrichstadtkirche : Konzert zu Christi Sterbestunde. Lilienfelder Cantorei, Passionsmusik von Schütz, Distler, drei Motetten von Frank Schwemmer (UA). Leitung: Klaus-Martin Bresgott, 15 Uhr.