Der bleiche Mann war nur 15 Kilometer nördlich eine Instanz, jemand, der von Diktatoren gehört und von einigen Kollegen gefürchtet war. Hier aber, in der Freiheitshalle in Hof, Anfang der 80er-Jahre, waren seine Arbeiten in einer schon zehn Jahre nach Richtfest angeschrammelten Aula ausgestellt und er musste sich mit dem bemühten oberfränkischen Bildungsbürgertum bequemen.
Willi Sitte war die Kunstattraktion des "Hofer Herbstes", und wer den Präsidenten des Verbandes der Bildenden Künstler der DDR bescheiden und leise auch die schlichten Fragen beantworten sah, hätte ihn wohl mit einem alternden Kunstlehrer verwechselt, dem endlich etwas Respekt für sein Werk entgegengebracht wurde. Aber Sitte war ein Staatskünstler, Volkskammermitglied und wenig später nach der bescheidenen Ausstellung in Oberfranken auch Mitglied im ZK der SED.
Wer im selben Jahr in Dresden die IX. Kunstausstellung der DDR (pompös im Albertinum eingerichtet) besuchte, entdeckte den anderen Sitte, wuchtig präsentiert als eine der Säulen auf dem die zweite deutsche Diktatur im 20. Jahrhundert weltanschaulich wirkte und dem Künstler dabei eine eindeutige Rolle zuschrieb: als Dekorateur der Unfreiheit.
Dass die Arbeiten der gefeierten Staatskünstler zweifelsfrei handwerkliche und auch intellektuelle Qualitäten besaßen - so wie die Literatur eines ZK-Mitglieds wie Hermann Kant -, überrascht weniger als die Patina, die diese Art von sozialistischem Tand angesetzt hat.
Die Arbeiten sind schlecht gealtert, so wie die SED eben auch. Dünn wirkt diese Kunst, interessant vor allem, weil sie daran erinnert, wie weit weg diese Kunst von der Avantgarde war und wie nahe jener kleinbürgerlichen Vorstellung von Kunst, die nur in der DDR recht überleben mochte.
Geradezu verdreht kommt die Geschichtstravestie daher, mit der Werner Tübke ein Historiengemälde zur "Frühbürgerlichen Revolution" von Thomas Müntzer 1525 beginnt. Der Gegenwart entglitten, malt Tübke etwas, das durch die friedliche Revolution 1989 in der DDR neue und ungewollte Aktualität gewinnt. Eröffnet wird das Gemälde nach über zehn Jahren Arbeit sieben Wochen vor dem Fall der Mauer.
60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik wie der DDR, zwanzig Jahre nach dem Einrennen der Mauer, gibt es das Bedürfnis nach einer Neusondierung der Nachkriegskunst in Deutschland, flankiert von einer frischen, aufgeklärten Gelassenheit im Umgang mit der eigenen Geschichte. Bezeichnenderweise war es ein Museum in Los Angeles, das den Deutschen nun nach der Ausstellung "60 Jahre. 60 Werke" im Martin-Gropius-Bau einen weiteren Interpretationsversuch liefert.
Die These der Ausstellung ist ebenso einfach wie schmissig: Ost und West waren sich aller ideologischen Gräben zum Trotz gar nicht so fremd und fern. So zumindest artikulieren es die Kuratoren - und das deutsche Feuilleton folgte dieser Einschätzung gern.
Jetzt kommt die Ausstellung nach Nürnberg ins Germanische Nationalmuseum, selbst eine Art Ikone deutscher Kulturvermittlung, und dies in einer Stadt, in der die Barbarei der Nazis ihre schaurigen Umzüge aufführte und in welcher der Zweite Weltkrieg eine der intakten mittelalterlichen Städte Europas dem Erdboden gleichmachte.
Die Ausstellung blickt von links auf die Kunstgeschichte und macht sie zu einem Dokument der Zeitläufte. Unterschiedlichste Qualitäten werden entlang von oft übersehenen Ost-West-Begegnungen arrangiert. Es erinnert ein wenig an die Versuche einer Sendung wie "Kennzeichen D" (ZDF), auf den Schultern des Linksliberalismus kulturelle und politische Passagen zwischen zwei im Kalten Krieg einander fremd gewordenen Staaten zu bauen. Das Verständnis für DDR-Künstler geht dabei relativ weit - zumindest im Katalog.
Tübke zum Beispiel bemalt den vermeintlichen "Weißen Terror" in Ungarn 1956 und macht den Volksaufstand damit zu einer Sache der Bourgeoisie gegen die arbeitenden Massen: eine Konterrevolution. Milde wird darüber im Katalog geurteilt, dass "Tübke in erster Linie die Möglichkeit, dramatische Massenszenen zu komponieren" interessiert. Eine bemerkenswerte Einschätzung.
Ebenso mitfühlend wird die mitunter kaum verhohlene Sympathie für die RAF eingeordnet. Im besten Text des Katalogs schreibt Diedrich Diederichsen als offensiver Linker auch darüber, wie ihm und den befreundeten Künstlern im Laufe der Zeit die Begriffe weggebrochen und ungenau geworden sind. Treffender noch müsste man sagen, dass beide Seiten um ihre Sprache ringen, und die Künstler im Westen ihre eigene finden dürfen, während die im Osten zu Stimmen in einem streng choreografierten Chor degradiert werden.
1945 war keine Stunde Null
Wie wenig 1945 eine Stunde null war, zeigt der Einfluss der einst verfemten Moderne auf die Anfänge der Kunst. Braun, melancholisch und trostlos mühen sich Künstler wie Karl Hofer und Hans Grundig am Unfassbaren, die erschütternden Fotografien von Richard Peter erinnern an das große Leichenfeld, zu dem das zerstörte Land geworden war.
Aus der Schockstarre löste sich nur langsam neuer, frischer künstlerischer Elan. Die Andacht, die Grundig in "Den Opfern des Faschismus" vorschlägt, nimmt sich fast hilflos aus angesichts der Dimension des Grauens, das die Deutschen über die Welt gebracht haben und über ihre jüdischen, kommunistischen oder schwulen Mitbürger.
Die Wahrnehmung des Landes blieb lange im Dunkel. Von Hofer über Beuys und Kiefer bis Immendorf dämmert das Licht nur sporadisch über die Bild- und Objektflächen. "Tortured" beschreibt die "New York Times" die Kunst dieser Ausstellung, gequält wie gefoltert vom Schatten der Vergangenheit, der die deutsche Kunst nahezu ausschließlich mit großem Ernst begegnen will. Humor taucht nur subtil beim Rheinländer Beuys und brachial bei Martin Kippenberger auf. Ansonsten ein einziges Stahlbad ohne Fun.
Manche DDR-Künstler sind Entdeckungen
Die Entdeckungen der Ausstellung sind jene Künstler der DDR, die nicht unter Sittes Fittichen standen und die im Abseits Eigenwilliges produzierten. Die abstrakten Objekte des Bildhauers Hermann Glöckner aus Dresden, die beißende sozialdokumentarische Fotografie von den Frauen Gundula Schulze Eldowy, Maria Sewcz, Barbara Metselaar-Berthold und Sibylle Bergemann.
Alle vier Fotografinnen waren jenem linken Realismus verpflichtet, der im 19. Jahrhundert entstanden war, um die Missstände der Welt sichtbar und damit veränderbar zu machen. Dort, wo der eisige sozialistische Realismus ins Reich der Fabel und des grotesken Theaters abgerutscht ist, waren es ausgerechnet Dissidenten, die den Wahrheitsgehalt von Bildern neu behaupten konnten. Allein für die Fotografinnen hätte sich die Ausstellung gelohnt.
Dass man auch die Autoperforationsartisten aus Leipzig und einen halbnackten, damals noch unbekannten Dichter namens Durs Grünbein entdecken kann, vervollständigt das Gefühl, dem jeweils anderen näher gekommen zu sein. Noch lebt diese Vergangenheit, deswegen kann diese Ausstellung nichts anderes sein als ein Zwischenbefund: eine klare These mit Verve umgesetzt. Die Verstrickung der DDR-Kunst mit dem Unrechtsstaat bleibt mehr als vage.
Wer Sitte heute besuchen will, muss nach Merseburg fahren. Dort in der Willi-Sitte-Galerie sitzt der Meister und hat ab 15 Uhr 30 eine Autogrammstunde. Zu seinen Förderern gehört ein illustrer Kreis von Gazprom über Peter Sodann bis zu allen erdenklichen Gewerkschaftsvertretungen. Ein auf 30 Exemplare limitierter Druck des Gemäldes "Solidarität" ist für 120 Euro zu haben, vom Künstler signiert. Kühl ragt der Berg der Entrechteten, die um Freiheit ringen: Sie sind gefangen in schlechter Reklame.
"Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen von 1945-1989" ist vom 28. Mai bis 6.September im Germanischen Nationalmuseum zu sehen und vom 3. Oktober bis 10. Januar 2010 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Der Katalog erscheint bei DuMont