Noch vor wenigen Tagen überzog ein Zentimeter dicker Eispanzer die Bürgersteige in Berlin. Die Schlagzeilen waren bestimmt von fehlendem Streusalz und von überfüllten Krankenhäusern, in denen sich Patienten mit gebrochenen Knochen auf den Fluren stauten. Da kam dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle eine Idee: Die Stadt Berlin könne doch junge Sozialempfänger zum Räumen der Bürgersteige einsetzen.
„So praktisch ist das Leben", sagte Westerwelle der „Bild am Sonntag“. Es war ein weiterer Vorstoß, im innenpolitischen Streit über die Zukunft des Sozialstaats, den Westerwelle mit seinen Äußerungen über „anstrengungslosen Wohlstand“ und „spätrömische Dekadenz“ vom Zaun gebrochen hatte.
Was Westerwelle offenbar nicht wusste: Einige Tage zuvor schon hatte die Stadt 650 befristete Stellen zum Eis-Hacken ausgeschrieben. Tageslohn 50 Euro. Binnen kürzester Zeit meldeten sich 27.000 Arbeitssuchende bei der Arbeitsagentur. Man wird also noch sagen dürfen: So praktisch ist das Leben ganz ohne die vermeintlichen Tabubrüche des Bundesaußenministers.
Dass die Debatte um den Sozialstaat, wie Westerwelle sie führt, sich recht weit von der Realität entfernt hat und die schwarz-gelbe Koalition inzwischen ernsthaft belastet, zeigt die Tatsache, dass die Bundeskanzlerin im „Bericht aus Berlin“ davon sprach, es gebe „zu viele unnötige Diskussionen“. Zuvor bereits hatte sie den Vizekanzler mehrfach öffentlich gerüffelt.
Die Forderung Westerwelles, dass derjenige, der arbeitet, mehr haben müsse als der, der nicht arbeitet, sei „selbstverständlich“, sagte die Kanzlerin etwa der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Der widersprach in einem Gastbeitrag auf Morgenpost Online ( ).
Die intensive Debatte zeige, dass die Diskussion „leider alles andere als selbstverständlich“ sei. Kanzlerin und Vizekanzler streiten sich öffentlich – Grund genug für die Redaktion von Anne Will, ihrer Sendung den Titel „Koalitionskrach um Hartz IV - Provozieren statt Regieren?“ zu geben und der Frage nachzugehen: Was treibt den Außenminister dazu, den innenpolitischen Krawall zu suchen?
Leider war derjenige, der tatsächlich Auskunft hätte geben können, nicht in der Runde vertreten. „Guido Westerwelle ist unserer Einladung nicht gefolgt“, sagte Anne Will gleich zu Beginn und so blieb den Anwesenden nur, über die Motive Westerwelles zu mutmaßen. „Dass die Debatte zu diesem Zeitpunkt geführt wird, ist natürlich kein Zufall und hängt sicherlich auch mit den schlechten Umfragwerten der FDP zusammen“, eröffnete Schriftsteller Richard David Precht die Runde.
Auch der erfahrene Hauptstadtjournalist Hans-Ulrich Jörges ("Stern") führte Westerwelles Einlassungen auf die schrumpfende Zustimmung für die FDP seit der Bundestagswahl zurück. Die Liberalen seien in den ersten hundert Tagen der schwarz-gelben Regierung als „Postenjäger“ durch den Staat gezogen und hätten nichts zur Sache beigetragen.
„Die FDP hat als sichtbar gewordene und leicht angreifbare Klientelpartei viel Vertrauen und viele Wähler verloren, die gedacht haben, sie wählen eine Partei des gesunden Menschenverstands und nun haben sie eine Interessenpartei gewählt“, sagte Jörges. Die Sozialstaatsdiskussion sei „ein panikartiger Reflex der FDP auf sinkende Umfragewerte“.
Die Ebene des Parteienstreits eröffnete Manuela Schwesig, stellvertretende SPD-Vorsitzende und Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern: „Es geht Herrn Westerwelle nicht um eine Debatte zum Sozialstaat. Er dreht ziemlich am Zeiger. Er macht eine regelrechte Hetzkampagne“, sagte sie. Das, was Westerwelle fordere, sei kein Tabu, sondern „gesellschaftspolitischer Konsens“. Also alles Parteitaktik, ein Manöver bezogen auf die wichtigen Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen?
„Das Ergebnis in Nordrhein-Westfalen wird ein ordentliches sein“, sagte dagegen die FDP-Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger. Sie übernahm die wenig dankbare Aufgabe, die Aussagen ihres Parteichefs zu versachlichen. Die Debatte sei durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen für Kinder ausgelöst worden.
Von allen Parteien sei daraufhin eine Erhöhung der Regelsätze für Erwachsene gefordert worden. „Es war eine Debatte, die sofort wieder in eine Richtung ging und er hat deutlich machen wollen, dass wir, wenn wir über den Sozialstaat sprechen, eine Balance brauchen“, sagte sie. Man müsse auch an diejenigen denken, die das erwirtschaften müssten.
Beistand erhielt sie in diesem Punkt von Arnulf Baring. Der Publizist, der sich als Botschafter der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ engagiert, sagte: „Mit Ausnahme der FDP sind alle Parteien Sozialstaatsparteien und das ist eine wunderbare Sache in einem wohlhabenden Land, was wir aber leider nicht sind. Das Land als solches ist in einem Maße verschuldet, dass ich fest davon überzeugt bin, unsere Kinder und Enkel werden uns verfluchen.“
Wie es mit dem Sozialstaat weitergehe, sei daher eine außerordentlich wichtige Frage „und zwar unabhängig von der Person Westerwelle“.
Aber die Sozialstaatsdebatte, die Baring gern geführt hätte, gewann in der verbleibenden Zeit nicht an Tiefe. Schwesig forderte einen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro, musste aber einräumen, dass die rot-grünen Arbeitsmarktreformen den Niedriglohnsektor, den sie damit zu bekämpfen gedenkt, erst geschaffen haben.
Richard David Precht gefiel sich in der Haltung, dass ein Teil der Hartz-IV-Empfänger ohnehin für die Gesellschaft verloren sei und nur die Bürger den „Angststillstand in der Politik“ durch gesellschaftliches Engagement auflösen könnten. Homburger pochte auf weitere Steuersenkungen und erklärte dennoch allen Ernstes zum Haushalt mit der höchsten Neuverschuldung der Nachkriegsgeschichte: „Wir sind jetzt dabei im Haushalt 2010 zu sparen.“
Das resignierte Fazit zog "Stern"-Mann Jörges. „Es gibt wahrscheinlich gar keine Lösung. Wenn man einen Mindestlohn einführt, der das Lohnabstandsgebot ernst nimmt, dann muss er über zehn Euro sein und damit werden so viele Arbeitsplätze gerade für Geringqualifizierte vernichtet, dass man das Gegenteil angerichtet hat. Die Leistungen für Arbeitslose zu kürzen, geht auch nicht. Wir kommen da nicht raus.“