Late Night "Beckmann"

Wie Altkanzler Schmidt Westerwelle abwatscht

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Antje Hildebrandt

Foto: dpa / dpa/DPA

Eigentlich sollten sie bei Reinhold Beckmann über ihr neues Buch sprechen: Doch Helmut Schmidt kippte beim Doppel-Interview mit dem Historiker Fritz Stern lieber Öl ins Feuer um die Debatte über angeblich parasitäre Hartz-IV-Empfänger. Und das bekam vor allem Guido Westerwelle ab.

Es gibt einen Mann, der auch mit 91 Jahren noch die nötige Autorität besitzt, um gestandenen Berufspolitikern eine Lektion zu erteilen. Dieser Mann ist ein Phänomen. Er pfeift auf die Etikette. Er redet, ohne sein Gegenüber anzuschauen. Er nebelt jeden Raum gnadenlos mit seinen Mentholkippen ein. Doch nie würde es jemand wagen, ihn zu bitten, den Rauch in eine andere Richtung zu pusten oder seine Zigarette erst gar nicht anzuzünden. Er müsste damit rechnen, dass ihn die Medien wegen Majestätsbeleidigung steinigen.

Dieser Mann hat sich schließlich als Bundeskanzler in den 70er-Jahren den Ruf erworben, er könnte das Steuer in letzter Sekunde herumreißen, wenn die „MS Deutschland“ mit voller Kraft auf einen Eisberg zusteuert. Kurioserweise hat er seinen Vertrauensbonus nicht im Amt aufgebraucht. Noch heute hat sein Wort mehr Gewicht als das seiner Nachfolger. Sein Name ist Helmut Schmidt.

Das sozialdemokratische Urgestein war zu Gast bei Reinhold Beckmann, nicht alleine, sondern zusammen mit einem langjährigen Weggefährten, dem US-amerikanischen Historiker Fritz Stern. Vermutlich wollte Beckmann diese Gelegenheit nutzen, um zu demonstrieren, dass Geschichtsunterricht keineswegs langweilig sein muss. Schließlich waren die beiden gekommen, um ihr neues Opus vorzustellen. Im Sommer 2009 haben sie sich zu Hause bei Schmidt in Hamburg getroffen, um das Jahrhundert gemeinsam Revue passieren zu lassen. Das Ergebnis ihres Gesprächmarathons wurde auf Tonband aufgezeichnet und als Buch veröffentlicht: „Unser Jahrhundert.“

Doch was blieb am Ende vom Gipfeltreffen der Old Boys übrig, nachdem sich der dickste Zigarettenqualm verzogen hatte? Die Erinnerung an einen Methusalem, der als sozialdemokratisches Gewissen der Nation nie so gefragt war wie heute. Und eine Standpauke für Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP).

Den kanzelte der 91-Jährige für seine Attacken gegen angeblich arbeitsunwillige Hartz-IV-Bezieher ab. Der FDP-Vorsitzende und Vizekanzler sei „ein Meister der Wichtigtuerei“, befand Schmidt auf seine unnachahmlich trockene Art. Westerwelle liege völlig daneben, wenn er von „anstrengungslosem Wohlstand“ und „spätrömischer Dekadenz“ spreche. „Es gibt niemanden, der dem Volk Wohlstand versprochen hat, ohne dass es dafür arbeiten muss.“ Es sei ein merkwürdiges Feindbild, das der Liberale da beschwöre. „Er redet gegen jemanden, den es gar nicht gibt.“

Da hat der Anwalt der umstrittenen Agenda 2010 gesprochen. Er sitzt jetzt mit dem vierten Herzschrittmacher im Rollstuhl, und an seinem Gesicht konnte man ablesen, dass er sich einen hübscheren Rahmen für ein Treffen mit seinem alten Kumpel Fritz vorstellen kann als das Studio von Beckmann.

Lange Zeit hat er solche Auftritte genossen. Der Machtmensch Schmidt, er hat solche Gelegenheiten immer gerne genutzt, um von seinem Sockel als lebendes Denkmal zu klettern und sich als Rock’n’Roller unter den Genossen zu inszenieren. Das schafft Volksnähe. Der Altkanzler als grumpy old man. Doch nun musste er sich überwinden, um diese Rolle zu spielen. Merkwürdig müde wirkte er und gar nicht so streitlustig. „Sind Sie gern ein Vorbild?“, wollte Beckmann wissen. „Noch nicht drüber nachgedacht“, brummelte der Gebauchpinselte. Und schob mürrisch nach: „Lieber nicht.“

An Gewicht verlor sein Urteil zur Lage der Nation deshalb nicht. Im Gegenteil. Westerwelles Rundumschlag gegen die Hartz-IV-Empfänger wurmt ihn offenbar wirklich, den Bildungsbürger aus proletarischen Verhältnissen, der nie vergessen hat, wo er hergekommen ist. Zu viert hätten sie in seiner Kindheit in einem kleinen Zimmer gehaust, keine Waschmaschine, kein Kühlschrank. Der Lebensstandard für die kleinen Leute, resümierte er, habe sich seither verbessert.

Es gehört Mut dazu, solche Töne ausgerechnet jetzt anzustimmen, da Arbeitnehmer unisono über stagnierende Löhne jammern. Helmut Schmidt wagt es, ohne Rücksicht auf Verluste. Dafür lieben ihn seine Anhänger. Der Mann hat Rückgrat.

"Ich gehe so weit zu sagen, dass der Wohlfahrtsstaat die größte kulturelle Leistung ist neben vielen Minusleistungen und Verbrechen, die die Europäer im Laufe des 20. Jahrhundert zustande gebracht haben“, bilanzierte der Volkswirtschaftler bei Beckmann. Und verstieg sich zu der kühnen Prognose, mit einiger Verspätung werde sich der Sozialstaat sogar in den USA weiterentwickeln.

Jedem anderen Gast hätte Reinhold Beckmann spätestens an dieser Stelle widersprochen. Geht doch der Trend derzeit eher in die entgegengesetzte Richtung, wie Fritz Stern vorsichtig mit Blick auf die zunehmenden Half-Time-Jobs bemerkte. Doch der Historiker, einer der profundesten Deutschlandkenner in den USA, zog es vor, eine Auseinandersetzung zu umschiffen.

Mochten die beiden auch gemeinsam gekommen sein – die Bühne überließ er Helmut Schmidt, dem ersten Mann an Bord. Wenn Beckmann geglaubt hat, die beiden könnten im Studio das wiederholen, was in ihrem Buch „Unser Jahrhundert“ so wunderbar funktioniert hat, so hatte er sich gründlich getäuscht.

Es ist eben doch etwas anderes, ob zwei Zeitzeugen das Jahrhundert Revue passieren lassen, von den Indianern zum Holocaust, von Chinas Aufschwung zur Wirtschaftsmacht bis zur derzeitigen Rezession. Und sich dabei gegenseitig die Bälle zuspielen, witzig und pointiert.

Oder ob sie bei Beckmann im Studio sitzen und ihren Fragenkatalog eher höflich als motiviert abhaken. Vom Nationalsozialismus zum Nahostkonflikt. Richtig spannend wurde es nur, wenn sich der Altkanzler zur aktuellen Sozialpolitik äußerte.

Was passieren müsse, damit sich Arbeit in Deutschland wieder lohne, wollte Beckmann wissen. Der Frage nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn wich der Volkswirtschaftler aus.

Stellvertretend für den Zuschauer durfte sich Schmidt stattdessen sein Unverständnis darüber äußern, dass eine Friseurin 18.000 bis 20.000 Euro im Jahr und der Vorstand eines DAX-notierten Unternehmens 2,5 Millionen Euro verdiene. „Diese Spanne muss nicht sein, und sie wird auch nicht so bleiben.“

Was den Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“ da so zuversichtlich macht, fragte Beckmann sicherheitshalber nicht nach. Journalistisch war das unverzeihlich, aber menschlich verständlich. Es gibt Menschen, denen man lieber nicht zu dicht auf die Pelle rückt, aus Angst davor, ihren Nimbus zu zerstören. Helmut Schmidt ist einer von ihnen. Sein Schlusswort klang wie ein vorgezogener Nachruf in eigener Sache: „Es ist nicht notwendig, dass man sich an mich erinnert – und wenn doch, dann an jemanden, der versucht hat, anständig seine Pflicht zu erfüllen.“