Es muss nicht immer nur ein alter griechischer Philosoph wie Diogenes sein, der am hellen Tage auszieht, um mit einer Laterne Menschen zu suchen, wahre, gute und schöne nämlich. In seinem Stück „Groß und klein“ zum Beispiel ließ der mythenaffine, keiner Transzendenz abholde Botho Strauß die arbeitslose, in Scheidung lebende Grafikerin Lotte, Mitte Dreißig und aus Remscheid-Lennep stammend, von Saarbrücken bis Sylt reisen, um dasselbe zu probieren: Einen Menschen zu finden, der so etwas wie ein fester Punkt sein könnte, von dem die Welt aus den Angeln zu heben wäre - oder zumindest die westdeutsche Realität der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts mitsamt ihrer sozialen Kälte, verkümmerten Kommunikation, inhumanen Bürokratie und der hochgradigen, alle gesellschaftlichen Bereiche unterminierenden Entfremdung.
„Groß und klein“ war einmal ein nachdrücklicher Kommentar zu seiner Zeit und wurde nach der legendären Uraufführung von Peter Stein, der es 1978 in den Berliner CCC - Filmstudios mit dem Ensemble der Schaubühne am Halleschen Ufer inszenierte, in knapp eineinhalb Jahren an zwanzig Theatern neu interpretiert. Vielleicht liegt es an der heutigen politischen Situation und einer im Zeichen von Massenentlassungen, Hartz-IV-Gesetzen und deregulierten globalen Märkten grassierenden allgemeinen Unsicherheit, dass „Groß und klein“ nach einer längeren Phase der Vergessenheit plötzlich wieder in die Spielpläne zurückkehrt. Denn trotz seiner historischen Verflechtungen birgt es offensichtlich derart viel zeitlos kritische Masse, dass es immer dann aktuell werden kann, wenn die „großen Verhältnisse“ den „kleinen Leuten“ die Luft zum Atmen nehmen.
Theatralische Zurückhaltung
Außerdem ist es klug gebaut, geistreich geschrieben und witzig überformt. Man muss es bloß zu lesen und darzustellen wissen und natürlich den Staub, der sich nach dreißig Jahren - erstaunlich gering - angesammelt hat, entfernen. Doch im Deutschen Theater Berlin hat die Schweizer Regisseurin Barbara Frey weder einen Lappen, der Botho Strauß’ wohl gelungenstes Drama frisch glänzen ließe, noch ein glückliches Händchen, um seine inhaltlich - ästhetische Dringlichkeit zu vermitteln.
Als gemäßigte Antitraditionalistin, die den Stücken meist schüchtern - dezent über die Haut streicht, statt ihnen forschend - liebevoll darunter zu gehen, hat sie es bis zur Intendantin des Schauspielhauses Zürich gebracht, das sie ab 2009 leiten wird. Ihr Stilprinzip einer ausgeprägten theatralischen Zurückhaltung, das schon länger die Gefahr blutleerer Beliebigkeit nur schlecht verbarg, zeigt sich bei „Groß und klein“ in voller Unpracht: Keine Spannung, keine Phantasie und eine triste Einfalt, was die Umsetzung des von Strauß so pointiert geschilderten Kreuzweges seiner Heldin in einen zeitgenössischen Bezugsrahmens anbetrifft.
Das vorwiegend kahle Bühnenbild von Bettina Meyer ist oft - wenig originell - mit simplen Zweckstühle möbliert, wie sie in Versammlungsräumen oder Privatgärten herumstehen. Überhaupt kratzt die Aufführung höchstens an der Oberfläche der hier verhandelten Konstellationen und Konflikte, selbst wenn Schauspieler wie Margit Bendokat als verwirrte alte Frau oder Christian Grashof - unter anderem als Lottes Ex-Mann Paul - schön mitklingen lassen, wie vielschichtig und abgründig ihre Figuren sein könnten.
Souverän, gescheit und wundervoll
Was den zweistündigen Abend trotz aller illustrativen Belanglosigkeit indes wirklich sehenswert macht, ist einzig und allein die souveräne, gescheite und wundervolle Nina Hoss. Bereits 2006 lenkte sie am Deutschen Theater mit ihrer grandiosen Gestaltung der Titelrolle von Barbara Freys dünner Interpretation der „Medea“ des Euripides ab. Nun wurde ihr von der sichtlich überforderten Regisseurin erneut die Aufgabe zuteil, eine schrecklich uninspirierte Veranstaltung zu retten.
Nina Hoss, gleichermaßen begnadete Komödiantin und überragende Tragödin, kann das, und wie! Freilich wagt man sich kaum vorzustellen, was sie unter besseren künstlerischen Umständen noch alles hätte schaffen können. Denn auch so gerät ihr die Lotte zum Inbegriff radikaler Verzweiflung, wie sie mit der schwarzen Zeichenmappe unterm Arm und dem offenen Herzen unter dem schlichten grünen Kostüm durch ein unzugängliches Land irrt, dessen Bewohner an seelischer Auszehrung und galoppierender Kontaktallergie leiden.
Eine Freundin aus Kindertagen verweigert Lotte den Zutritt ins Haus und parliert mit ihr lieber quäkend durch die Gegensprechanlage. „Willst du neben mir hier deine Krankheit ausdünsten?“, brüllt sie Frank Seppeler als „Mann im Parka“ an der Bushaltestelle an, und möchte die sich jeder Zuordnung entziehende Frau am liebsten verjagen. Am Schluss schmeißt sie ein Arzt aus dem Wartezimmer. Lotte geht schnurstracks nach hinten ab, wirft jedoch vor dem Verschwinden rasch einen kurzen Blick über die Schulter ins Publikum: „Selbst schuld“, scheint das zu heißen, und alle wissen, wie’s gemeint ist. „Groß und klein“ ist dank Nina Hoss sogar in dieser Schmalspur - Inszenierung ein starkes Stück.
Botho Strauß: Groß und klein. Deutsches Theater Berlin. Wieder am 20., 21.03. Karten: 030-28441-225, www.deutschestheater.de