Manche Berliner Orte haben eine Gravitationskraft wie schwarze Löcher im All. Alles in ihrer Nähe wird von ihnen angezogen, und niemand kann sich dieser Kraft entziehen. In Prenzlauer Berg haben wir so ein schwarzes Loch, die Eisdiele „Hokey Pokey“ an der Stargarder Straße. Berlinweit berühmt ist sie ja, seit der Inhaber im Sommer vor drei Jahren den Preis pro Kugel erhöhte (von 1,20 Euro auf 1,60 Euro), um die Zahl der Kunden und damit auch die Belästigung für die Nachbarn zu dezimieren – eine Strategie, die absurd klingt und so gar nicht funktioniert hat. Im Gegenteil.
Am vergangenen Sonntag war die Schlange vor „Hokey Pokey“ grob geschätzt 30 Meter lang – und das, obwohl es an der Stargarder Straße gleich zwei „Hokey-Pokey“-Läden fast direkt nebeneinander gibt (und die Kugel heute 1,80 Euro kostet). Ich hätte eigentlich auch gern ein Eis gehabt, sah aber nicht ein, mich dafür eine halbe Ewigkeit anzustellen. Neulich hatte ich es mal bei einer Zehn-Meter-Schlange versucht und bitterlich bereut. Vor allem, weil eine Frau vor mir erst einmal verlangte, diverse Sorten ausgiebig probieren zu dürfen, bevor sie sich entschied. Das machte mich unterschwellig so aggressiv, dass ich zur Beruhigung gleich drei Kugeln bestellen musste. Danach war mir schlecht.
Der Berliner steht gern Schlange
Insgesamt scheint der Berliner ziemlich gern Schlange zu stehen. Berühmt-berüchtigt ist ja die Berghain-Schlange. Wobei keiner mehr so genau weiß, ob man dort nun wirklich wegen der super Party ansteht oder wegen des Mythos der härtesten Tür ever. Oder einfach, weil es zu den Dingen gehört, die man mal in Berlin gemacht haben muss. Natürlich ist die Touri-Quote vor dem Berghain auch sehr hoch. Und wird wohl nur noch von Mustafas Gemüsedöner am Kreuzberger Mehringdamm übertroffen, der noch mehr bevölkert ist als das unmittelbar daneben liegende Curry 36.
Ich persönlich hasse am meisten die Schlange vor dem BVG-Ticketautomaten am Flughafen Tegel. Wenn gerade mehrere Flieger gelandet sind, ist dort wirklich die Hölle los. Was dadurch verstärkt wird, dass sämtliche Berlin-Besucher von den vielen Optionen am Gerät heillos überfordert sind und verzweifelt darauf herumdrücken. In Schönefeld ist es ähnlich. Es wäre ein netter Zug der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), an solchen neuralgischen Punkten ganz einfache, simple Automaten aufzustellen. Mit einem Knopf, auf dem das Wort „Ticket“ steht, einem Münzschlitz und einer Klappe, aus der Fahrkarte und Wechselgeld kommen. Fertig ist die Laube. Aber mit einfach und simpel haben wir es ja nicht so in Berlin.
Keine Erfahrung habe ich wiederum mit der alljährlichen Schlange für Berlinale-Tickets. Irgendwie ist es ja auch ziemlich freakig, wenn sich Menschen mit Schlafsack und Stullen für eine Nacht vor die Schalter in den Potsdamer Platz Arcaden legen, nur um einen Film sehen zu können, den man später immer noch gucken kann. Was ich mich immer gefragt habe: Was passiert eigentlich, wenn man da mal auf die Toilette muss? Weggegangen, Platz vergangen? Oder ist der Cineast mehr so der solidarisch-kumpelhafte Typ, der einen Toilettengänger mit einem freundlichen Schulterklopfen wieder vor sich einscheren lässt? Ich glaube, bei der Apple-Schlange für neue iPhones oder iWatches kommen die Menschen deshalb in Kleingruppen, um dann in Schichten anzustehen beziehungsweise austreten und essen zu gehen. Ein ausgeklügeltes System.
Vielleicht sollten das auch andere Schlangesteher adaptieren. Zum Beispiel vor dem Bürgeramt, vor dem Strandbad Wannsee an einem sonnigen Tag, vor H&M, wenn es wieder mal eine hässliche Designer-Kollektion gibt – oder vor Supermärkten in großen Bahnhöfen, die auch sonntags geöffnet haben und wo Türsteher dann den Einlass kontrollieren. Aber vielleicht finden viele das Schlangestehen auch ganz schön. Immerhin weiß man dann, gerade an einem der angesagtesten Orte der Stadt zu sein. Ich glaube, ich versuche es heute Nachmittag auch nochmal mit einem Eis.