Berlin. Sie nennt sich Sophie. Miss Sophie. Man denkt an die schon betagte, aber noch ausgesprochen trinkfeste Gastgeberin aus dem Silvester-Sketch „Dinner for One“. An eine eiserne Lady, die ihren 90. Geburtstag feiert – wie immer im Kreis ihrer Gäste. Die sind zwar längst tot. Aber hey, sie trinkt sie trotzdem alle unter den Tisch.
Cornelia Kohler (42) hätte dafür gar keine Zeit. Man trifft sie in Schöneweide. Hier, im Erdgeschoss eines Altbaus, hat sich die studierte Bildhauerin den Traum vom eigenen Atelier erfüllt. Eine Küche gibt es auch. Die Wände sind grau gestrichen, echte Birkenstämme dienen als Deko-Element, ebenso die Skulptur eines weißen Wolfs, ein echter Hingucker. Kerzen brennen, der Tisch ist gedeckt. Die Gäste, drei Männer und fünf Frauen, nippen noch etwas schüchtern an ihrem Begrüßungscocktail, einem Mix aus grünem Jasmintee, Nektarinen und japanischem Gin. Cornelia Kohler kommt gar nicht dazu, mit ihnen anzustoßen. Denn Kohler kocht. Und wenn sie kocht, dann macht sie das mit einer Hingabe und einer Liebe zum Detail, wie man sie sogar in der gehobenen Gastronomie nur selten findet.
Supper Clubs, so nennen sich Küchen oder Wohnzimmer, in die Gastgeber Unbekannte einladen und bewirten. Der Trend kommt aus den USA der 1930er-Jahre. Es war die Zeit der Großen Depression, der großen Wirtschaftskrise. Ein Restaurant zu besuchen: Das konnte sich keiner leisten. Geschlemmt wurde bei Fremden zu Hause, in geschlossener Gesellschaft. Aufs Essengehen zu verzichten war keine Option – gutes Essen war schließlich schon immer der beste Stimmungsaufheller. Das ist heute nicht anders als gestern. Am Tisch kommt man mit Menschen ins Gespräch, die man sonst vermutlich nie kennengelernt hätte. Und zu Hause ist die Atmosphäre sogar noch lockerer als in Restaurants, wo immer schon ein Kellner hinter einem steht, um Wein nachzuschenken. Oder um die Frage zu stellen, vor der sich auch Deutschlands berühmtester Komiker Loriot gefürchtet hat: „Schmeckt’s?“
Authentische Kochkunst statt Touristen-Fraß
Wie viele Supper Clubs es heute in Deutschland gibt, weiß keiner. Private Pop-up-Restaurants kommen und gehen. Aber die meisten findet man in Berlin. Einige haben sich bei kommerziellen Plattformen wie Eatwith registriert. Die Community wurde 2012 von dem Israeli Guy Michlin gegründet. Der Geschäftsmann hatte Urlaub auf Kreta gemacht. Er sagt, nach einigen Tagen habe er es sattgehabt, essen zu gehen. Immer derselbe Touristen-Fraß. Berge von Gyros und viel Tsatsiki. „Ich sehnte mich nach authentischem griechischen Essen.“
Heute könnte er sich auf der Insel vor lauter Alternativen gar nicht entscheiden: Soul Food im Garten von Zacharoula? Oder schlemmen wie Gott in der griechischen Antike bei Mariana? Eatwith vermittelt weltweit Gastgeber in über 200 Städten, von New York bis Berlin, von Tel Aviv bis Barcelona.
In Berlin leben viele Supper Clubs von der Mundpropaganda. Sie heißen „Good Stuff“, „Krauted Haus“ oder „Zuhause in Berlin“. Unter ihren Betreibern sind viele Künstler und Kreative. Menschen, die von einem Essen mehr erwarten, als nur satt zu werden. Nicht selten sind es Zugezogene aus dem Ausland, die den Austausch mit anderen suchen. Der Österreicher Flipo (33) ist so einer. Seine Gäste lädt der Psychotherapeut in Ausbildung ins Wohnzimmer seiner WG in Kreuzberg ein, allerdings nur Gruppen, idealerweise mit zehn Personen. Flipo sagt, darunter würde es sich kaum lohnen. Schließlich koche er nicht nur aus Leidenschaft, sondern auch, um sein Gehalt aufzubessern. Oft sind seine Kunden junge Start-up-Unternehmen, die ihren Mitarbeitern etwas Besonderes bieten wollen. „Ich habe aber auch schon für einen 30. Geburtstag und einen spanischen Junggesellinnenabschied gekocht“, sagt Flipo. Und neulich rannten ihm chinesische Mütter und ihre Kinder die Bude ein. Er sagt: „Es hat ewig gedauert. Die wollten nach dem Dinner alle noch Selfies mit mir machen.“
Eine Portion Neugier ist auch dabei
Supper Clubs leben auch von der Neugier, fremde Wohnungen und ihre Besitzer kennenzulernen. Schnitzel essen im „Borchardts“ kann jeder. Aber bei Flipo muss man sich nicht beeilen, weil die nächsten Gäste schon vor der Tür stehen. Die Preise sind zivil. Und die Musik kann man sich auch selbst aussuchen. Bei Flipo kommt sie noch vom Plattenteller. Er schwört auf Vinyl. Auf 1960er-Jahre-Rock, Blues oder Soul. Gute Musik, findet er, verleihe so einem Dinner den letzten Schliff.
Es ist eine eigene Welt, in die die Hobbyköche ihre Gäste entführen. Bei Miss Sophie ist es gleich ein ganzer Planet. Cornelia Kohler ist Bildhauerin, Textildesignerin, Eventmanagerin – und als Tochter eines süddeutschen Weinbauern eben auch leidenschaftliche Köchin. Eine große Frau, die ihre langen dunklen Haare zum Zopf gebunden trägt. Hellwache Augen blicken aus einem freundlichen Gesicht.
Es ist Freitagabend, 19 Uhr. Cornelia Kohler steht in der offenen Küche, und ihre Gäste schauen ihr dabei zu, wie sie Matcha-Tapioka-Chips auf Tellern mit Pfirsich-Tomatensüppchen und einem Quitten-Gin-Espuma platziert. Jeder Teller ist ein eigenes Kunstwerk.
„Das mag ich so an Connie“, sagt Wolfgang, graue Locken, kariertes Kurzarmhemd. Er kennt die Gastgeberin schon ein bisschen länger, denn er sucht die Weine zu ihren Dinnern aus. Zum Tomatensüppchen schenkt er einen Riesling aus Rheinhessen aus. „Der ist nicht ganz trocken, der balanciert das Süße-Säure-Spiel aus“, erklärt er den anderen Gästen. Connaisseure unter sich.
Reich werden können die Hobbyköche nicht
Ein Abend bei Miss Sophie, lernt man, ist aber nicht nur geschmacklich ein Aha-Erlebnis. Da ist der weiße Wolf, der den Esstisch bewacht. Da ist das dunkle Ölgemälde, das an der Stirnseite der Küche hängt. Ein Bett steht im Birkenwald. Ein Mädchen mit dunklen Haaren sitzt auf der Bettkante. Hinter ihr steht ein Bär. Er hat die rechte Tatze auf ihre Schulter gelegt. „Bist du das?“, fragt Alexandra. Sie hat ein herzhaftes Lachen und silberne Ohrringe, so groß, dass man sie auch als Körbe beim Basketball benutzen könnte. Geräuschvoll kratzt sie den letzten Rest Tomatensüppchen vom Teller. „Das war schon mal gut.“ Alexandra muss es wissen. Sie arbeitet als Food-&-Beverage-Managerin in einem Konferenz- und Tagungszentrum.
Cornelia Kohler nickt. Natürlich ist sie das Mädchen auf dem Bild. Todernst schaut es aus. Und vielleicht erzählt das Selbstporträt mehr über sie, als sie in dieser Runde von sich preisgeben würde. Von der Bildhauerei könne sie nicht leben, sagt sie später. Jahrelang habe sie ihre Kunst mit Jobs als Eventmanagerin subventioniert. Doch lange, sagt sie, halte sie das nicht mehr aus. Den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, das mache ihr Sprunggelenk im Fuß nicht mehr mit. Es ist die Folge einer Verletzung, die sie als Teenager erlitt, als sie sich einem Skinhead in den Weg stellte, der auf eine Freundin losgehen wollte. Cornelia Kohler lächelt gequält. Eine hässliche Geschichte.
So kam sie darauf, sich ein Standbein als Köchin zu suchen. Wobei: Mehr als ein Taschengeld bleibe nach drei Tagen Arbeit für ein Vier-Gänge-Menü nicht für sie übrig, sagt sie. 49 Euro zahlen ihre Gäste für das Essen mit Fleisch. Die vegetarische Variante ist sieben Euro billiger. Ein Freundschaftspreis, wenn man so will. Aber ums Geld geht es Cornelia Kohler auch nur in zweiter Linie. Sie sagt, sie habe schon immer gern für Freunde gekocht. „Die Arbeit in der Küche hat etwas Meditatives. Ich kann mich dabei richtig versenken.“
Genießer treffen auf Genießer
Lui, geblümtes Sommerkleid, ein verschmitztes Lächeln im fein geschnittenen Gesicht, nickt ihr zu. Wem erzählt Cornelia Kohler das? Lui ist eine der wenigen Ur-Berlinerinnen in der Runde, Grafikdesignerin und Yogalehrerin aus Wilmersdorf. Sie sagt, zehn Jahre lang habe sie selbst mit einer Freundin zu Hause für Fremde gekocht. „Berlin Dinner“, so hieß ihr Supper Club. Was haben sie da nicht alles zusammen ausprobiert. Ein Dinner ganz in Weiß zum Beispiel. Geflügel, Morchelsoße, Reis, Pannacotta zum Dessert. Oder Themenabende zu Reiseländern. Was man eben macht, wenn man irre gern isst und irre gern kocht. Lui schwärmt noch immer von diesen Abenden. Von der Stille, wenn alle ihr Essen genießen und man nur noch das Kratzen der Dessertlöffel hört. Einmal, es muss beim selbst gemachten Himbeer-Sorbet passiert sein, habe ein Gast laut aufgestöhnt: „Das ist wie Sex.“
Lui lächelt. Sie sagte, dafür habe sich das stundenlange Stehen in der Küche gelohnt. Es sei das schönste Kompliment gewesen, das sie in zehn Jahren bekommen habe. „Heute Abend wollte ich mich aber mal selbst verwöhnen lassen.“
Lui sagt, sie sei sechs oder sieben gewesen, als sie ihre Leidenschaft für das Kochen entdeckt habe. Ihre Eltern hatten sie für einen Kinderkochkurs an der Volkshochschule angemeldet. „Mein erstes Essen war Chicoréesalat mit Mandarinen. Ich musste einfach nur die Dose öffnen und die Mandarinen mit dem Salat vermengen.“ Sie kichert. So einen Gang könnten weder sie noch Miss Sophie Gästen unterjubeln. Die sind alle Genießer. Sie wissen, wo man in Berlin gut essen gehen kann. Französisch oder japanisch, das ganze Programm. Sie waren auch schon alle auf der Thaiwiese im Preußenpark in Wilmersdorf. „Da kannst du für zwei Euro futtern wie bei Muttern“, schwärmt Eva aus Schöneweide, mit 30 die Jüngste in der Runde.
Der perfekte Rahmen, auch um die Liebe fürs Leben kennenzulernen
Kochen können Miss Sophies Gäste auch alle selbst, der eine mehr, der andere weniger. Eva, die erst vor zwei Jahren von Mainz nach Berlin gezogen und mit ihrem Lebensgefährten Kristian gekommen ist, macht allerdings keinen Hehl daraus, dass sie sich lieber bekochen lässt, als selbst den Kochlöffel zu schwingen. „Bei mir gibt es Nudeln – aber nicht mit Ketchup, mit richtiger Soße.“ Die Runde lacht. Das Eis, es ist jetzt endgültig gebrochen. Eva beißt in den Krustenbraten vom Thüringer Duroc-Schwein, den Cornelia Kohler mit Salbei-Gnocchi, Pfifferlingen, gebratenen Pfirsichen und einer Schokoladen-Rotweinsoße zubereitet hat – natürlich vom Bio-Schwein. Da macht Cornelia Kohler keine Zugeständnisse. Bio muss es sein. Zumindest beim Fleisch. Das ist nicht nur eine Frage des Geschmacks, das ist auch eine Frage der Lebenseinstellung.
Und mitunter vielleicht sogar ein Kriterium bei der Partnerwahl. Bio oder nicht bio? Das wird Wolfgang später sagen, als sich die Gäste längst verabschiedet haben – nicht ohne „die Connie“ zum Abschied in den Arm genommen und sich bedankt zu haben. Was für ein tolles Essen, was für ein toller Wein. Und was für anregende Gespräche. Wolfgang sagt, solche Abende seien eigentlich der perfekte Rahmen, um Frauen kennenzulernen.
Am Tisch finde man schnell heraus, wie Menschen ticken. Wolfgang grinst. Er ist Single. Er sagt, schon einige Male habe er mit Frauen nach so einem Dinner Telefonnummern ausgetauscht. Mit einigen habe er sich sogar getroffen. Die Frau fürs Leben war noch nicht dabei, aber er sieht es locker. Als Sommelier hat er die Poleposition. Männer, die sich mit Weinen auskennen, stehen in diesen Zeiten hoch im Kurs.
„Heute Abend habe ich fein gegessen und mich mit acht Frauen nett unterhalten“, frohlockt der Bayer. Und das sei doch viel erfüllender, als mit 52 Jahren über den Tennisplatz zu hechten und mitleidige Blicke der Damenwelt auf sich zu ziehen.
Eine Auswahl von Supper Clubs in Berlin:
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Neuer Gang, neue Frage, neuer Gesprächspartner: Tiefgründige Fragespiele bei gutem Essen gibt es bei story-teller.club
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