Es ist Nacht über Neukölln. Ein paar vermummte Gestalten erklimmen das Dach eines Gebäudes vis-a-vis zur Karstadt-Filiale am Hermannplatz. Durch die Straßenschluchten rauscht der Verkehr, die Scheinwerfer der Autos tauchen die nasse Fahrbahn in helles Licht. Doch hier oben, auf dem Dach des vierstöckigen Hauses, ist es dunkel. Mit Farbrollen, die an meterlange Stangen befestigt sind, macht sich die Gruppe an ihr nicht grade ungefährliches Werk.
Sie beugen sich über die Kante und beginnen, eine riesige Fläche mit Farbe anzustreichen. Langsam zeichnen sich die Schriftzüge „UT“ und „1UP“ ab. Es sind die Namen zweier großer Berliner Graffiti-Crews. Später wird eine Maler-Firma mit einer Hebebühne anrücken und die sogenannten „Rooftops“ überstreichen. Den Kampf gegen die übereifrigen Graffiti-Sprayer werden sie verlieren. Ein umso größeres „1UP“ bleibt am Ende stehen, wie eine Sieger-Trophäe. Für die einen entsteht hier Kunst. Für die anderen ist es Vandalismus.
Die Szene, gut dokumentiert auf einem Video der „1 UP“-Crew, legt den Grundstein für ein Wahrzeichen der Gegend, wo die Hermannstraße auf die Karl-Marx-Straße und Kreuzberg auf Neukölln trifft. Wer heute an dem Gebäude mit der Anschrift Hasenheide 119 vorbeiläuft, der sieht: Hier hat sich einiges verändert.
Seit vielen Monaten umarmt ein Baugerüst das seit langem leer stehende Haus. Und das scheint Graffiti-Sprayer magisch anzuziehen. Unzählige Bilder zieren mittlerweile die Fassade, auch das Nachbarhaus ist betroffen. „Aper“, „ÜF“ und „Klopso“ haben hier neben vielen anderen ihre Spuren hinterlassen. Und die „1UP“-Gruppe ist gleich nochmal hinaufgeklettert. Doch mit dem Graffitihaus könnte es bald vorbei sein.
Morgenpost Interaktiv: Graffiti-Citiy - Zwischen Kunst und Kriminalität
„1A Lage – Trendbezirk Neukölln“, wirbt die Immobilienfirma „Ziegert“, die in dem Gebäude nun 3000 Quadratmeter Gewerbefläche vermieten möchte. „Das Haus wird komplett saniert“, sagt eine Firmen-Sprecherin auf Anfrage. Das bedeutet: Die Graffitis kommen weg.
Die Website "Leerstandsmelder" hat das Gebäude schon seit vielen Jahren im Visier. Auf dem Portal werden leerstehende Immobilien aufgelistet um auf Wohnraummangel hinzuweisen. Für das Haus an der Hasenheide interessieren sich viele, wie eine Sprecherin der Immobilienfirma bestätigt.
Im September 2015 habe es eine Zweckentfremdungsanzeige gegeben, sagte der Neuköllner Baustadtrat Thomas Blesing (SPD) im vergangenen Jahr dem Stadtmagazin "tip". "Wir haben das überprüft, tatsächlich Leerstand festgestellt und den Eigentümer angeschrieben.". Dann passierte lange nichts.
Nun ist klar: Aus dem Neuköllner Wahrzeichen, aus der Sieger-Trophäe der Graffiti-Maler, wird ein Büroturm. Auch einige Wohnungen sollen dort entstehen. Ende 2017/Anfang 2018 soll es soweit sein. Ob dann bald wieder vermummte Gestalten im Schutze der Neuköllner Nacht luftige Höhen erklimmen, wird sich zeigen. In jedem Fall ist es ein deutliches Zeichen dafür, dass sich der "Trendbezirk Neukölln" immer mehr verändert.
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