Kreuzberg

Angst ums Kind: Tempo 10 – aber keiner hält sich dran

| Lesedauer: 5 Minuten
Das Tempo wird in der Straße der Anwohner Gabriel Hacker und Celine Sawicki selten eingehalten. Hilfe von Behördenseite bekommen sie nicht.

Das Tempo wird in der Straße der Anwohner Gabriel Hacker und Celine Sawicki selten eingehalten. Hilfe von Behördenseite bekommen sie nicht.

Foto: Patrick Goldstein

Raser, Lärm und Eltern, die ihre Söhne und Töchter nicht allein zur Schule gehen lassen: Weder Polizei noch Bezirk helfen Kreuzberger Anwohnern.

Berlin.  „Das ist der klassische Fall“, sagt Anwohner Gabriel Hacker und weist entnervt auf die Fahrbahn vor seinem Haus an der Kreuzberger Waldemarstraße: Dort rollt ein Mini vorschriftsmäßig mit geringem Tempo über das Kopfsteinpflaster, von hinten nähert sich laut klappernd ein Pritschenwagen mit gewiss mehr als 30 Stundenkilometern in voller Fahrt, umkurvt den Pkw, setzt sich davor und biegt schließlich mit quietschenden Reifen in eine Nebenstraße. Formel-Eins-Atmosphäre im Wohnviertel. „Das passiert ständig“, sagt Medienunternehmer Hacker (45). „Aber denken Sie, hier kommt mal ein Polizist, um das zu kontrollieren?“

Nachbarin Celine Sawicki, pensionierte Schuldirektorin, schüttelt da aus Erfahrung bereits den Kopf. Sie habe das Problem schon bei Stadtfesten am Stand vorgetragen, an dem Polizisten eigentlich auf Bürgersorgen antworten sollen. „Aber ich habe nur eine Telefonnummer bekommen – für etwaige Beschwerden“, sagt die 76-Jährige. „Dort geht jedoch entweder niemand ran, oder ich werde vertröstet.“

Raser an der WaldemarstraßeÖ Tempo runter im Wohngebiet

Der ungebremste Abschnitt reicht von der Luckauer Straße bis zum Legiendamm. Typisches Kreuzberg: Eigentumswohnungen, Mietwohnungen, Familien, Alteingesessene, Neu-Berliner. Dort dürfte mit einem Tempo-10-Schild und dem Hinweis „Straßenschäden“ für Autofahrer eigentlich alles klar sein. Ist es aber nicht. Oder es ist egal. „Die Rasen wie die Irren“, sagt Hacker. Und wirklich. In drei Minuten fährt unter zehn Wagen nur erwähnter Mini mit angemessener Geschwindigkeit.

„Wir haben hier mal messen lassen“, sagt Sawicki, „die Höchstwerte lagen bei 80 Stundenkilometern.“ Für Hacker, der selbst Auto fährt, ist das Hauptproblem: Wie soll seine siebenjährige Tochter da je allein und heil zur nahen Schule kommen? „Meine Partnerin und ich bringen sie jedenfalls täglich selbst dorthin.“ Andere Eltern hielten das auch so.

„Wem nutzt ein Tempolimit, an das sich niemand hält?“

Sawicki zog 2013 in die Waldemarstraße. „Erst galt Tempo 50, dann wurde das auf 30 reduziert. Wir haben gejubelt. Danach ging das sogar runter auf zehn Stundenkilometer, wir waren begeistert. Inzwischen sind aber alle hier ziemlich ernüchtert: Was nutzt uns ein Tempolimit, an das sich niemand hält und das die Polizei nicht kontrolliert?“

Die Lage und Beschaffenheit der Fahrbahn macht die Straße zur Problemstrecke. Sie verläuft parallel zur Oranienstraße. Auf der stockt es aber ständig, weil in zweiter Spur geparkt wird oder Busse fahren. „Also bekommen wir den Ausweichverkehr“, sagt Hacker. „Besonders Taxis, Lieferwagen und Handwerksbetriebe sind hier unterwegs.“ Das geht rund um die Uhr. „Auf Kopfsteinpflaster dröhnt es schon, wenn nur zwei Pkw dort fahren. „Unsere Tochter hat ihr Zimmer zur Straße hin“, sagt Hacker. „Aber wegen des Lärms übernachtet sie im Hinterzimmer bei uns.“ Sawicki sagt, um in ihrer Wohnung, deren Fenster alle zur Waldemarstraße gehen, länger zu lüften, sei es einfach zu laut.

Gute Idee aus dem Bergmannkiez

Gabriel Hacker hat sich hilfesuchend an das Bezirksamt gewandt. Dessen Ordnungsamt hat zwar keine Tempoverstöße zu ahnden. Aber Hacker und die Menschen in seinem Haus haben Ideen zur Verkehrsberuhigung. Die Einführung einer Einbahnstraße würde schon helfen. Gut finden Hacker und Sawicki die Idee von der Kreuzberger Fidicinstraße. Dort hat der Bezirk jetzt angeordnet, dass nicht mehr längs sondern quer geparkt wird, in die Fahrbahn hinein. Ergebnis: Die Autofahrer müssen, wie berichtet, nun Zick-Zack-Kurs durch die Straße nehmen. Das senkt das Tempo enorm.

2019 bereits schrieb Hacker an das Straßen- und Grünflächenamt. Dort stellte man ihm für 2020 verkehrsberuhigende Maßnahmen im Bezirk in Aussicht. Denkbar seien geschwindigkeitsdämpfende Schwellen. „Bis 2020 war aber nichts geschehen“, sagt Hacker.

Er hakte schriftlich nach. Antwort: Zu viel zu tun wegen Corona. „2021 dann verwies das Amt darauf, dass die Oranienstraße 2022/23 umgebaut und in dem Zuge auch das Umfeld entschleunigt werde“, so Hacker. Dass sich aber erstmal doch nichts tun wird, erfuhr die Nachbarschaft im Dezember 2022. Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne) musste in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) bekanntgeben, dass die Umbaupläne auf Eis liegen. „Hierzu muss ich Ihnen leider sagen, dass derzeit das Projekt aufgrund von personeller Engpässe gerade ruht“, sagte sie.

Notfalls selbst Hand anlegen

In einer früheren BVV-Sitzung hatte sich auch Hacker mit einer Einwohneranfrage an die Stadträtin gewandt. Wenn alles nichts hilft: Dürfe er sich denn dann wenigstens selbst etwas ausdenken, etwa aus eigener Tasche die rund 1000 Euro für eine Bodenschwelle anschaffen und anschließend auf die Straße schrauben? Das, gab Gerold zurück, würde eine Ordnungswidrigkeit darstellen.

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