Berlin. Acht Monate lang beobachtete Milan Radisics die junge Füchsin, verfolgte ihre Bewegungen, ihr Verhalten. Fast jeden Abend habe er am Fenster seines mitten im Wald stehenden Häuschens gesessen, „wo wilde Tiere fast wie Nachbarn der Dorfbewohner leben“, schreibt der ungarische Fotograf. Die Füchsin, die er Roxy taufte, sei regelmäßig in der Dämmerung im Dorf aufgetaucht, habe für anderthalb Stunden ihre Kreise gezogen. Um sie zu fotografieren, stellte er die Belichtung an seiner Kamera im Voraus ein, hielt den Fernauslöser in der Hand – und wartete, bis Roxy die Szenerie betrat. Doch das wohl schönste Foto gelang ihm aus dem Auto heraus. Es zeigt die Füchsin auf der Windschutzscheibe stehend – und ist derzeit im Willy-Brandt-Haus zu sehen. Noch bis zum 15. Januar läuft dort die Ausstellung Sony World Photography Awards 2022.
Bereits zum 15. Mal prämierte die World Photography Organisation herausragende fotografische Werke aus verschiedensten Genres und Kategorien wie Architektur und Design, Kreativ, dokumentarische Projekte, Umwelt, Landschaft, Portfolio, Porträt, Sport, Stillleben, Natur und wilde Tiere. 340.000 Bilder aus 211 Ländern wurden 2022 für den Wettbewerb um die begehrten Awards eingereicht. Mehr als 100 ausgewählte Fotografien von Nominierten und Gewinnern sind nun ausgestellt. Zum achten Mal holte der Freundeskreis Willy-Brandt-Haus die Sony World Photography Awards in diesem Jahr nach Berlin.
Die Fotografen gehen sehr unterschiedlich an ein Thema heran
Die Ausstellung vermittelt einen Eindruck davon, wie unterschiedlich Fotografen an ein Thema herangehen. Es sind Momentaufnahmen dabei, Bilder von Alltagssituationen. Ein Beispiel dafür ist das Foto „Havana Running Away“, mit dem Etienne Souchon im Offenen Wettbewerb in der Kategorie Straßenfotografie den ersten Platz belegte. Einen Monat lang streifte der französische Fotograf mit seiner 35-Millimeter-Kamera durch die kubanische Hauptstadt.
„Havana Running Away“ ist sein Lieblingsbild. Es zeigt ein schräg in einer der engen Straßen des Zentrums von Havanna parkendes Auto, ein nordamerikanisches Modell aus den 1950er-Jahren, wie es sie noch zuhauf auf Kubas Straßen gibt. Im Vordergrund ein Junge in Schuluniform samt Halstuch, der vor etwas wegzulaufen scheint.
Während Souchon bewusst auf die Schwarz-Weiß-Fotografie setzt, entfalten andere Bilder gerade erst durch die Farben ihre Wirkung. So zum Beispiel das Foto „Bike with Flowers“, mit dem Thanh Nguyen Phuc in der Kategorie Reisen erfolgreich war. Ein Wochenende lang folgte der Vietnamese mobilen Händlern in Hanoi. Dabei schoss er auch das Foto eines vorbeiradelnden Blumenhändlers. Die großformatigen Blütenornamente auf der Gebäudefassade hinter dem Mann erwecken den Eindruck, als seien die Blumen dem Händler gerade vom Fahrrad gefallen.
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Fotos, bis ins kleinste Detail inszeniert
Ebenso zeigt die Ausstellung Fotos, die bis ins Detail inszeniert sind. Bilder, bei denen Fotografen unter anderem mit Montagen arbeiten – wie der Kroate Domagoj Burilovic, der den Blick auf sterbende Dörfer in Slawonien lenkt, indem er Fotos verfallender Häuser mit Aufnahmen der dortigen Natur vereint. So vielfältig wie die fotografischen Techniken sind auch die Themen, denen sich die Fotografen widmen. Das Spektrum reicht dabei von Dokumentationen zu politischen Krisen über persönliche Betrachtungen zu Familie und Verlust bis hin zu kreativen Stillleben.
Auch die Gewinnerserie des Photographer of the Year 2022, Adam Ferguson, aus Australien wird gezeigt. „Migrantes“ ist eine Reihe mit Selbstporträts von Migranten in Mexiko, die darauf warten, die Grenze zu den Vereinigten Staaten zu überqueren. Der Fotograf bereitete jedes Bild vor, indem er seine Kamera auf ein Stativ mit Fernbedienung montierte. Dann zog er sich zurück, um seinen Protagonisten die Möglichkeit zu geben, den Moment der Aufnahme selbst zu bestimmen und so an der Dokumentation ihrer Lebenssituation mitzuwirken. Er entschied sich für einen Schwarz-Weiß-Film, um das Gewirr an Hintergrundfarben auszulöschen und das Bild auf seinen emotionalen Wert zu reduzieren.
Das Publikum kommt zahlreich
Unweit der Fotos von Adam Ferguson haben die Ausstellungsmacher eine beeindruckende dokumentarische Arbeit von Fabian Ritter platziert: Thema seines Fotoessays „The Long Days of Hanau“ ist der rassistisch motivierte Anschlag vom 19. Februar 2020 im hessischen Hanau, der ganz Deutschland erschütterte. Ritter begleitete Freunde und Angehörige der Ermordeten. Eines der Fotos zeigt einen jungen Mann mit ernster Miene, der sich das Datum 19.02.2020 auf den Oberkörper hat tätowieren lassen.
Obwohl einige Besucher bemängeln (wie im Gästebuch nachzulesen ist), dass die erläuternden Texte vielfach zu tief unter den jeweiligen Fotos angebracht sind: Die Ausstellung ist absolut sehenswert. Das hat sich bei den Berlinern offensichtlich auch herumgesprochen, denn sie sind zahlreich in der Fotoschau anzutreffen.
Museums-Info
- Willy-Brandt-Haus Stresemannstr. 28, Kreuzberg, Telefon 25 99 37 00, Di.–So. 12–18 Uhr, Eintritt frei. Einlass bis 17.30 Uhr unter Vorlage eines gültigen Personalausweises.
- Sony World Photography Awards 2022 Ausstellung bis 15.1. Die Sony World Photography Awards wurden 2007 mit Unterstützung von Sony von der World Photography Organisation (WPO) ins Leben gerufen. Die WPO fördert die professionelle, Amateur- und studentische Fotografie und bietet der Fotoindustrie eine Plattform zur Präsentation aktueller fotografischer Trends. Der Freundeskreis Willy-Brandt-Haus wurde 1996 gegründet. Der Verein gestaltet ein Veranstaltungsprogramm an der Schnittstelle von Kultur und Politik, unter anderem mit Ausstellungen, Lesungen und Diskussionen.