Einer, dem die Türme definitiv fehlen werden, ist Andreas Sommerfeldt. Wenn er aus seinem Wohnzimmerfenster in Schmargendorf über die Stadtautobahn schaute, standen da diese drei Türme. Majestätisch, formatfüllend, schon immer. Mal trugen sie weiche, selbst ausgeatmete Mützen aus Dampf. Mal standen als sie silbrig gleißende Säulen vor dunklem Gewitterhimmel wie bedeutsame Monolithen.
Tatsächlich bekam das Heizkraftwerk Wilmersdorf, das 1977 ans Netz ging, 1980 auch mal einen Architekturpreis. Aber seine eigentliche Berühmtheit, zumindest unter Berlinern, verdankte der Bau mit den drei charakteristischen orangefarbenen Kesselhäusern wohl seiner Lage direkt an der Stadtautobahn A100.
Auf dem Gelände des historischen Elektrizitätswerks an der Forckenbeckstraße in Schmargendorf gelegen, waren die Türme von der Fahrbahn aus gesehen für alle eine Landmarke, die regelmäßig hier vorbeifuhren. So, wie der Funkturm an der Avus signalisiert, dass man wieder zu Hause ist, zeigten die Türme des Heizkraftwerks für viele Wilmersdorfer an: bitte hier ausfahren. Tauchten die Türme im Rückspiegel auf, hatte man die Ausfahrt verpasst. Auch von der Ringbahn aus sind die Bauwerke zu sehen. Und im Sommerbad Wilmersdorf bilden sie direkt hinter dem türkisfarbenen Becken ein Fotomotiv im schönsten Industriekitsch-Stil.
Der erste Turm wurde vor einem Jahr abgebaut, der zweite folgte im Winter
Jetzt sind sie weg. Der Abbau der Türme war seit langem beschlossen. Das Kraftwerk, das schon seit Jahren nur noch in Spitzenzeiten zugeschaltet wurde, wenn besonders viel Energie gebraucht wurde, wird modernisiert. Schon 2018 sind am Standort Wilmersdorf drei neue, erdgasbasierte Heißwassererzeuger in Betrieb gegangen, so die Firma Vattenfall. Die „Neuen“ verfügen über eine thermische Leistung von insgesamt rund 120 Megawatt und können bei Bedarf benötigte Wärme schnell zur Verfügung stellen.
Das alte Heizkraftwerk wird dafür nicht mehr gebraucht. Im April 2021 ging es vom Netz. Der erste Turm wurde vor einem Jahr abgebaut, der zweite folgte im Winter. Seitdem verschwindet der mächtige Industriebau langsam, Stück für Stück. Abgetragen von Kränen, die sich erst an den Türmen, dann auch an den Sockeln zu schaffen machten wie pickende Riesenvögel. Seit zehn Tagen ist auch der letzte der drei Türme Geschichte.
1977 ging das Heizkraftwerk in Betrieb
Bereits 1911 wurde auf dem Areal das Elektrizitätswerk Südwest in Betrieb genommen, von 1938 an war die städtische Bewag Betreiber. Nach dem Ende des Krieges 1945 demontierten Soldaten der Roten Armee die im künftigen britischen Sektor Berlins gelegenen Kraftwerksanlagen weitgehend, so auch diese. 1964 wurden die verbliebenen Anlagen vom Netz genommen.
Erst in den 1970er-Jahren ging es in Wilmersdorf wieder los. 1971 fiel die Entscheidung für ein neues, schnell startendes Gasturbinenkraftwerk. Das hatte auch politische Gründe. West-Berlin musste sich als geteilte Stadt selbst mit Strom versorgen. 1977 ging das Heizkraftwerk in Betrieb.
Als Treibstoff für zwei der drei Heiz-Türme diente leichtes Heizöl, ein dritter wurde mit Gas befeuert. Angeliefert wurde es früher per Zug. In den letzten Jahren kamen die Brennstofflieferungen per Lkw. Mittlerweile dampfen auf dem Gelände drei wesentlich kleinere Schornsteine. Vattenfall hat ein neues Mini-Kraftwerk zwischen die alten Kesselhäuser gesetzt. Von der Autobahn sind sie allerdings kaum zu erkennen.
Melancholie: Ein Mann hat sich das Heizkraftwerk eintätowieren lassen
Was wird bleiben? Rund 13.000 Tonnen Schrott zum Beispiel, die beim Rückbau anfallen. Der größte Teil ist Stahl und wird wieder eingeschmolzen. Bauteile als Andenken, wie sie in Berlin nicht erst Mauerfall in Berlin gern als Andenken gesammelt werden, sollte es geben nicht, hieß es zu Beginn des Rückbaus bei Wattenfall. Inzwischen gebe es jedoch Ideen, dass Auszubildende aus Blechteilen kleine „Give-aways“ herstellen könnten, sagt Vattenfall-Sprecher Stefan Müller.
Die Erinnerung wird auf jeden Fall wachgehalten durch viele Fotos. Gerade seit Beginn des Rückbaus wurden viele Bilder in den sozialen Netzwerken geteilt. Dort lässt sich neben allerlei malerischen Perspektiven der drei Türme in Öl oder im Sonnenuntergang auch Kurioses besichtigen: Ein Männerbein etwa mit einem tätowierten Heizkraftwerk Wilmersdorf darauf.
Bis Ende des Jahres soll das Kraftwerk ganz abgebaut sein. Betreiber Vattenfall betont, dass der „Rückbau“ auch Signal sei: Für den Ausstieg aus der fossilen Energie. Das Aus für Anlagen, die mit leichtem Heizöl betrieben werden, steht dabei weit oben auf der Agenda. Auch in den Steinkohlekraftwerken Moabit und Reuter-West in Siemensstadt soll bis spätestens 2030 mit der Verfeuerung der Kohle in Berlin Schluss sein. Die einstigen Kohle-Anlagen sollen dann auf eine Kombination aus Biomasse, Wärmepumpen, Power-to-Heat und Erdgas umgestellt werden.
„Der Energiestandort lebt weiter“
Wie es am Standort des alten Heizkraftwerks in Wilmersdorf weitergeht, ist noch offen. „Der Energiestandort lebt weiter“, versichert Vattenfall. Unter anderem habe das Gelände an der Forckenbeckstraße in Wilmersdorf schon immer auch eine wesentliche Rolle für die Verteilung von Fernwärme gespielt. Derzeit werde darüber hinaus an Plänen gearbeitet, bei denen es auch um die nachhaltige Erzeugung von Stadtwärme geht. Welche Technologie hier zum Einsatz kommen wird, ist aber offen.
Auch bei Nachbarn wie den Sommerfeldts kommt keine Melancholie auf. „Näher kann man doch nicht dran sein an der Realität“, kommentierte Andreas Sommerfeld den Abbau schon beim ersten Turm sachlich. Auch er fand es spannend, den Rückbau zu verfolgen und hat Fotos davon gemacht. Er sagt: „Berlin verändert sich eben, das macht die Stadt aus.“